Nacht und Tag
Leseprobe 5 von 8
Noch immer auf dem Weg nach Pamplona. Max hat in Lourdes eine seltsame, lang nachwirkende Begegnung mit einer blinden Frau.
Lourdes
Gegen Drei erreichten sie Lourdes. Die letzte Stunde hatte den Himmel verdunkelt. Dickleibige Wolken verdrängten die Sonne und verdrängten sie doch nicht ganz, denn ihr blieb, aus dem Hintergrund dramatische Kontraste zu zeichnen. Kühnes Lichtspiel übergoß den Horizont mit Bronze, und die Häuserfassaden kriegten einen ockrigen Farbstich verpaßt. Es würde Regen geben, ein starkes Gewitter. Von Ferne her meinte man bereits tiefes Grummeln zu vernehmen. Von den über dreitausend Meter hohen Gipfeln des Aneto und Vignemale kroch wirkmächtig und langsam der Wasserdampf herab, und die Kreuzformationen auf den Erhebungen gegenüber der Stadt, dem Béout, dem Petit und dem Grand Jer, waren nur mehr schemenhaft zu erahnen. Die Luft aber blieb stehen bei schwülen dreißig Grad. So ein Wetter ist am Fuße der Pyrenäen nicht außergewöhnlich, aber wer vom Meer kommt, zu viel getrunken und zu wenig geschlafen hat, dem erscheint es bedrohlich. Der schwer dräuende Himmel, der raunende Wind, die Phantasie einer kurz bevorstehenden Sturzflut im Hochgebirge, all das machte einen gehörigen Eindruck auf Max van Baccum. Der Landschaft hafte etwas Mittelalterliches an, schrieb er in sein Gedächtnis. Als Kind hatte ihn die Canossa-Geschichte gefesselt, und in seiner Vorstellung wäre es für Heinrich unmöglich gewesen, in einem anderen als bösen Wetter den Weg hinan zu steigen und an die Tür der düsteren Burg zu klopfen.
Max war kaputt. Apathisch hatte er auf dem Beifahrersitz gedöst, äußerlich stumpf, während gleichzeitig manch krankes Wort durch seinen Kopf schwirrte. Das waren die bunten Pillen, das Bier, der fehlende Schlaf, die letzte Nacht. Er war erledigt, ausgequetscht. Seine Augen brannten, sehnten sich nach Dunkelheit, und seine Beine lechzten nach Erholung. Wie sollte er nur Pamplona durchstehen, diesen wüsten Karneval, schau nur, er winkt schon heftig herüber? Eine ganze Nacht schlafen, das wär’s. Mindestens. Und wo wäre das besser möglich als in einem heiligen Ort?
Als ihr Auto die Stadtgrenze passiert hatte, begriff Max, daß genau das Gegenteil zutraf. Überall sonst im Departement Haute Pyrénées würde er Stille und Entspannung finden. Aber nicht hier. Mit seinen Schnellzugverbindungen, dem internationalen Flughafen und dem allgegenwärtigen, merkantilen Bürger-Ehrgeiz ist Lourdes das Rüdesheim der Katholiken, a shiny holy wonderland, himmelwärtiges Marien-KaDeWe, Tummelplatz überdrehter Glaubensfetischisten. Aber bestimmt keine Oase der Kontemplation, der stillen Suche, des demütigen Insichkehrens. Jedenfalls nicht im Sommer. Heerscharen von wundergläubigen Reisenden überschwemmen dann das Dorf, alleine gehend oder an Krücken, humpelnd und von Verwandten gestützt, in Rollstühlen oder fahrenden Krankenbetten. Stinkende Busse kotzen Tonnen von Unrat, Gebrechen und Weihwasserkanistern aus, und an jeder Straßenecke gibt’s käuflichen Segen. Wer vom Place Peyremale rechts abbiegt in die Rue de la Grotte, der taucht ein in diese merkwürdige Zwischenwelt aus gottesfürchtigem Disneyland und geldgeiler Volksfrömmigkeit. In sanften Bögen führt die Straße hinab zum Flüßchen Gave und von dort in den Schoß und Schlund des Ortes, die Sanctuaires, und die Grotte von Massabielle ist sein Raison d’Être. Fünf Millionen Menschen suchen Jahr für Jahr das kleine, gerade sechzehntausend Einwohner fassende Städtchen heim. Glücklich die, deren Luft aus der Sauerstoffflasche ist. Eine Mischung aus Heiligentourismus, ehrlichem Glauben, Schaden-kanns-ja-nicht-Attitüde und Geschäftssinn umwebt die aufgeputzten Gassen. „Town of Friendship, World Center of Pilgrimage, a special Place of meeting with God”, so wirbt der örtliche Tourismusverband. Und hat konsequenterweise gleich eine Internetverbindung geschaffen, die dem bewegungsfaulen Gelegenheitskatholiken die Möglichkeit gibt, vom heimischen Sofa aus in die Grotte von Massabielle zu blicken.
...
Max war nicht gut, kalter Schweiß tropfte von seiner Stirn. Er rang nach Luft, seine Beine waren wackelig, als hätte ihn ein Virus gepackt. Auch sein Kopf war befallen, absurde Szenen gingen ein und aus, Stimmen und Stimmungen spukten herum. Wie ein Bilderreigen von Breughel und Bosch sauste es vor seinem Auge auf und ab, Schuld und Tod, eine Galerie des Bösen, es piesackte, schärfer, quälte ihn, und in seinen Ohren summte unablässig der süße Walzer des Verfalls.
Das Hotel war ganz mit heiligtümelnden Menschen belegt, und Max fühlte sich von ihrer aufgeputschten Freundlichkeit geradezu erdrückt. Er wollte schlafen, so wie Felix, der schnarchend neben ihm lag, aber es ging nicht, irgend etwas hielt ihn ab. Also bestellte er sich einen starken Kaffee und trat schwankend vor die Tür.
Grellbunte Reklame schlug ihm entgegen. Lourdes, the city that never sleeps. Als ware es Reno, Nevada. „Se habla Espanol, man spreekt Vlaams, English spoken, si parla Italiano, man spricht Deutsch, on cause Wallons.” In den Schaufenstern waren wehrlose Marienfiguren aufgetürmt, vom Taschen- bis zum Lebendformat. Daneben Kerzen, der Größe nach aufgereiht wie Orgelpfeifen. Es ist schon Buße genug, sie zu tragen. Max stolperte die Rue de la Grotte hinauf, mitgezogen und aufgehalten vom endlosen Strom der Menschen.
Überall gab’s zu kaufen, was der gemeine Pilger braucht, vom Rosenkranz über Muttergottesfiguren und neoheidnische Mineralamulette zu den unvermeidlichen Behältnissen für heiliges Wasser. Sie waren aus milchigem Plastik und versehen mit dem Aufdruck LOURDES sowie einer Zeichnung von Basilika, Fluß, Grotte und Jungfrau. Es gab sie in allen Größen, vom 50cl-Flachmann zum In-die-Tasche-tragen bis zum Zehnlitertank für den, der es nötig hat. Viel hilft sicher viel. „Notre Dame de Noel. Weine aus Menjucq. Ty An Traou Mac. Grill. Parking. Brouwershuis.“ Babylon war ein Dorf dagegen. Daß alle religiösen Souvenirläden ein haargleiches Angebot führten und ihre Preise bis auf den Centime übereinstimmten, nährte den Verdacht kartellrechtlich bedenklicher Strukturen, grob gesagt, da wäre eine katholische Mafia am Werk. „Point vieux. Au roi Albert. Confiserie de la Grotte. Café Jeanne d’Arc. Sainte Rita. Salles de Réunion. Pax Mundi. WC Publics.“ Nicht weit vom Hotel bot eine Association de la Petite Voie de Sainte Therèse („the little Way Organisation“) ihre Dienste an, und Max überlegte, was damit wohl gemeint sei, eine Art Pilgerschaft light vielleicht, der bequeme Weg zu Gott, wohlstandskompatibel und portioniert genießbar. Ein Haus weiter warben sie für Addict und Attraction. Die sich das ausgedacht hatten, meinten Parfums, aber die Mädchen auf den Reklamephotos sahen aus, als übten sie für einen Pornostreifen. „Diorama Historial de la Médaille miraculéage. Son et Lumière.“ Max sog die Eindrücke ein, als läge er, mit einer Spritze im Arm, gefesselt auf dem Krankenbett, Morphinen ausgeliefert, und er sah unbeteiligt zu, wie die Infusion in ihn hinabtropfte. Plötzlich riß ihn ein unheiliger Lärm aus den Fieberträumen. Eine männliche Stimme schepperte durch ein Megaphon. Sie machte Reklame für den Circus Zattara, „franco-italien“, wie der Rufer betonte, und seine Parolen wurden unterbrochen von stampfender Musik. Als das Auto vorbeischlich, die Lautsprecher auf dem Dach groß wie ein Kühlschrank, machte Max ein Gesicht, als wäre ein Raumschiff gelandet. Und dieses Gesicht entgleiste noch mehr, als hinter dem Wagen ein Raubtierkäfig über die Straßen rumpelte, auf einem altertümlichen Anhänger hinter einer ebensolchen Zugmaschine. Wie im Kinderbuch. Und die drei Löwen im Käfig liefen nervös im Kreis herum. Arme Kreaturen. Dann bogen Lautsprecher und Löwen um die Ecke, es wurde leiser, nur das Murmeln der Menschen blieb, und das Fieber hatte ihn wieder. „Arts religieux. Hollandse Koffie. Auswahl von Eis.“ Auf der nächsten Markise stand, gold auf blau, in großen Lettern Union Catholique. Und darüber, klar und deutlich, worum es ging: Bijoux. Meterbreit.
Als Max sich den Place Monseigneur Laurence entlang schleppte, vor den Eingang zu den Sanctuaires, gegenüber dem Hotel Moderne, wurde er von der Neonreklame der Alliance Catholique geblendet. Giftigblaues Neon pries den Namen des Geschäfts, umrahmt von einem gelb blinkenden Pfeil, als wär’ es ein Erotikmarkt. Bei Reizüberflutung hilft nur der Holzhammer. Aber nicht die Schilder zogen ihn an, es war der Gesang der Gläubigen. Erst hatte Max vermutet, die Klänge kämen vom Kirchenplatz herübergeweht, aber dafür waren sie zu gleichmäßig, und als er genau hinhörte, merkte er, daß sie aus der anderen Richtung rührten. Und als er zum Laden drängte, durch einen Wald voll Kerzen, an Flaschen und Kanistern vorbei, Nippesfigürchen und Heiligenbildchen, und er endlich den Eingang erreicht hatte, die offenen Fenster, die sich ganz zur Seite schieben lassen, da stand da ein Dutzend Pilger um einen Fernsehapparat herum und sah sich einen Film an, der in einer Endlosschleife wiederholt wurde. Er zeigte Ausschnitte einer Messe auf dem Feldgeläuf der Sanctuaires, wie sie Tag für Tag passiert. Priester beten vor, Gläubige beten nach, Gebrechliche werden gefüttert, viele starren zum Himmel. Statt eines Kommentars erklang ein Lied, von dem man nur das Worte Ave verstand, mit Betonung auf -ve. A-ve, A-ve, A-ve. Was sich je nach Gusto anhörte wie Wehklagen oder ein Schlachtruf aus dem Stadion. Es war wie in einem Modegeschäft für Minderjährige, wo MTV und VIVA dudelt. Und die Leute standen drum herum und guckten sich das an. Totus Tuus. Nichts wie weg.
Max war durch. Seine Beine mochten nicht mehr, seine Lungen nicht und auch nicht sein Kopf. Diese Schwüle, jammerte er, sie nimmt mir Atem und Verstand. Das gleißende Licht, es macht mich blind und stumm. Aber gleißend war es doch gar nicht! Dunkel war es, beinahe finster. Es lag wohl an seiner Müdigkeit, erschöpft war der Mann, seine Augen flackerten, er konnte kaum was sehen. Sein Herz schlug wild und schmerzhaft, er fürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. Außerdem fiepte es in den Ohren, ein Stechen wütete in seiner Stirn, und ihm war heiß und kalt zur gleichen Zeit. „Maison natale de St. Bernadette. Bar. Fraiches. Gelati. Minimarket.“ Auf dem Weg zum Blvd. Père Rémy wurde ihm schwindelig. Erst verblaßten die Farben. Dann lösten sich Fassaden auf. Stuck zerbröselte, Fensterglas verflüchtigte sich. Regenrinnen taten wie geschmolzenes Blei. „Confection Dame / Enfant. Bières pression. All’Italiana. Gravure gratuite.“ Jetzt sank jede Form zu Boden. Straßenlaternen verschwanden im Asphalt und Autos verklumpten zu einer Masse aus Talg. „Objets de Piété. Planete Cadeaux.“ Max schwankte, stolperte, rempelte ein junges Mädchen an, gab wirres Zeug von sich, unverständliche Fetzen über die Sünde und den Tod. Passanten stützten ihn, begleiteten ihn auf eine Bank. Sie gaben ihm zu trinken und betupften seine Schläfen mit Kölnisch Wasser. „Mein Gott, der hat ja Fieber! Hohes Fieber!“ Ein praktisch denkender Mann wollte ihm einen Schnaps anbieten, doch die anderen hielten ihn zurück. „Das wird nicht reichen. Der hier braucht einen Arzt.“ – – –
„Er braucht Gott. Keinen Arzt.“ Aus der Ferne hörte Max eine langsam arbeitende, stark intonierende Frauenstimme. Sie war klangverliebt, altmodisch kunstvoll, aber auch ein wenig bedrohlich, ein Alt, das keinen Widerspruch duldete. Die Art, wie sie die Silben dehnte, diese Bestimmtheit, sie zeugte von einem unglaublichen Sich-Selbst-Sicher-Sein. Die Stimme wiederholte ihren Satz, er klang nah und deutlich, dann wieder weit weg, wie der Schrei der Ertrinkenden über das offene Meer. Gebrochene Gestalten formierten sich da, als verzweifelt Getriebene banden sie ihre Ohren zusammen, um besser zu verstehen. Ehrfürchtig lauschte van Baccum dieser Stimme, zusammengekauert lauschte er, auf dem Holzbalken, die Augen starr ins Weite gerichtet. „Er braucht Gott. Keinen Arzt. Denn die Wahrheit Gottes ist eine andere als die der Heilkunst.“ Jetzt schaute Max die Frau an. Ihr Gesicht paßte so gar nicht zu der Stimme. Es war blaß, unglaublich dünn, wenig konturiert, und es hatte schmale, ungeschminkte Lippen. (Was hat er erwartet, etwa ein hundsnasiges, eberzahniges Ungeheuer?) Die Frau war kaum mehr als ein Meter und fünfzig groß. Max schätzte sie auf siebzig Jahre. Sie trug kurze, braune Locken und hatte ihre Augen unter einer dicken Brille verborgen. Alles an ihrem Körper war zart und zerbrechlich: Ihr trinkhalmiger Hals, ihre kleinen Hände, die streichholzhaften Beine, welche knieabwärts unter einem roten Regenmantel hervorlugten. „Hilf mir, Gladys“, sagte sie leise zu der Person, die neben ihr stand, „Ich möchte zu ihm gehen.“ Die Angesprochene war unzweifelhaft ihre Schwester. Sie war aus gleichem Ton geformt, das gleiche Gesicht, die gleiche Figur. Nur die Brille fehlte. Und etwas jünger war sie. Gladys legte der mit der Brille und der tiefen Stimme eine Hand unter den Ellbogen und die andere auf ihre Schulter. „Komm, es ist gleich hier.“ Jetzt sah Max, daß sie blind war, und das machte ihre Stimme noch unheimlicher. „Wer bist Du, daß Du so müde bist?“ Max stotterte. „Ich… bin… auf der Durchreise.“ „Jeder Mensch ist auf der Durchreise. Aber manchmal sind die Wege nicht die richtigen.“ Da rappelte er sich ein bißchen auf. „Wer sind Sie?“ „Ich bin Muriel de Winter. Das ist meine Schwester Gladys. Wir kommen oft hierher.“ „Ich verstehe“, nuschelte van Baccum. Jedes Jahr pilgern hunderttausende Kranke und Gebrechliche zu der Grotte, auf ein Wunder hoffend, das sie von ihrem Leid erlösen soll. „Nichts verstehst Du!“ herrschte Muriel ihn an, „daß ich nicht sehe, hat nichts damit zu tun. Im Gegenteil, ich sehe es als Gnade an. Denn es läßt mich in die Seelen der Menschen blicken.“ „Sie hat ein zweites Gesicht“, ergänzte Gladys ein wenig vorlaut. „Schweig!“ herrschte Muriel sie an, um dann versöhnlich hinzuzufügen: „Ich mag nicht, wenn Du spottest.“ „Na, dann will ich mal wieder“, versuchte sich van Baccum davon zu mogeln, „mir geht es schon viel besser.“ „Das tut es nicht, Max. Das tut es ganz und gar nicht. Hin- und hergerissen, wie Du bist. Es kämpfen Anständigkeit und Sünde in Dir, stilles Bescheiden und eifernde Lust.“ Der Angesprochene zuckte, wieder tat sein Kreislauf Kapriolen, er wackelte wie Götterspeise. „Woher wissen Sie meinen Namen?“ Da mußte die alte Dame lachen, es war ein heiseres, aber von Herzen kommendes Lachen. „Keine Sorge, mein Freund, ich habe keine übersinnlichen Kräfte. Wir wohnen lediglich im gleichen Hotel. Ich habe gehört, wie Du Dich angemeldet hast.“ Puh, da war Durchatmen angesagt. „Aber daß Dich schon dieser kleine Scherz aus der Bahn wirft, zeigt, wie wenig Balance Du hast.“ In van Baccums Kopf formierte sich Glockengeläut. „Deine Seele ist gut. Sie sehnt sich nach Ruhe. Aber Dein Inneres steckt in einer falschen Hülle. Sie ist aufgehetzt, die Hülle, läuft in eine falsche Richtung. Kann nicht finden, was Du suchst. Weil Du Dich gehenläßt, mit dem Tode spielst, vor Deinem eigenen Ich davonläufst, vor denen, die Dich lieben, vor Gott.“ Papperlapapp. Dummes Geschwätz.
Dummes Geschwätz? Wirklich? Nicht ein Körnchen Wahrheit? NeinNeinNein. NeinJaNein. JaNeinJa. JaJaJa. Ja doch. Die Alte hatte Recht. Es spukte schon den ganzen Tag in seinem Kopf. Hoffentlich ging das bald vorüber. Wenn er nur wieder bei Kräften wäre. „Begleite uns zur Grotte, Max.“ Zur Grotte. Da wollte er sowieso hin. Ist doch die Hauptattraktion der Stadt. Würde er denn gehen können? „Steh’ auf! Du bist jung.“
Gemeinsam spazierten sie die Straße zurück, der Porte St. Joseph zu, nach den großzügigen, im Sommer ewig überfüllten Anlagen Les Sanctuaires, gemächlich wie Patienten eines Sanatoriums. „A la Chaine d’Or. Casa Portuguesa. Rapido Resto. A la Protection de Marie.“ Weg mit den Sprüchen, weg mit dem Neon, weg mit dem Radau! Wenn es nur nicht so düster wäre. Schon fuhren die ersten Autos mit Licht. Diesmal war es wirklich Donner. Kein Zweifel.
Die Luft wurde matt, nun war es Gewißheit: Das Gewitter würde kommen. Das Lichtspiel war vorbei, rabenschwarz war es am Horizont. Ein Lüftchen tauchte auf, wurde stärker, plötzlich erstarb es. Finstere Stille nun, die Stille vor dem Sturm. „Der Herr erbarme sich denen, die noch im Berg sind“, flüsterte eine alte Frau.
Max’ Atem war kurz, er rang nach Luft. Sein Hemd klebte am Körper, die Zunge am Gaumen. Warum gehst Du nicht zur Quelle, Max? Von der Grotte bis zu den Aufgangsbögen der Basilika erwarten Dich Wasserhähne, mach sie auf und trinke! Warum trinkst Du nicht? Es ist der einzige Ort in der Stadt, an dem ’s was umsonst gibt. „Au Chapelet de la Vierge. Au sacre Cœur de Jesus. A la Vierge immaculée.“ Vielstimmige Namen, ein einziger Zweck – das Ingangsetzen volkswirtschaftlicher Kreisläufe. „Diorama! Visitez! À 20 personnes. Cambio. Gebrannte Mandeln.“ Jesus hätte viel zu tun, wollte er hier die Tische gottfremder Händler stürzen, wie weiland im Tempel zu Jerusalem. „Ice-cream. À Padre Pio. À louer.“
Sie mußten wieder an der Alliance Catholique vorbei. Max sah nicht hin, horchte lieber nach rechts, den Gruppen und Grüppchen hinterher, die im Schoß und Schlund verschwanden. Ein Flüstern wehte herüber, ein Wispern wie Regen. „Gegrüßet seiest Du, Maria, voll der Gnaden.“ Gleich hinter dem Eingang blieb Muriel de Winter vor einem Zelt stehen. „Ich zeige Dir, was Du nicht siehst.“ In dem Zelt befand sich ein hölzernes Modell der heiligen Anlage, gedacht für Blinde. Muriel redete wie ein Reiseführer. Gleich daneben hatte sich eine Gruppe Indios zum Kreis aufgestellt, Hände auf Hüfthöhe, Handflächen nach außen, Nasen zum Himmel. Max empfand ihre Pose als lächerlich, übertrieben, wie amerikanisches Bibelfernsehen, aber offensichtlich meinten die Leute das ernst. Genau wie das junge Hippiepärchen in flachsigen Dreadlocks und sackigen Berbermänteln, das in einer Holzkiste leere Wasserflaschen zur Quelle trug. Selbst in Sachen Jungfrau blieben sie ökologisch korrekt. „Komm jetzt. Ich will Dir die Basiliken zeigen.“
Max mochte sie nicht. Ihr Grau nicht und nicht ihre Gestalt. Ein vergleichsweise filigranes Gotteshaus auf einem dicken Felsplateau, zu dessen oberem Eingang ausladende, weit geschwungene Auffahrtsrampen und Treppen führen, als wüchsen ihr zwei riesige Zangen aus dem Maul. Wie der Kopf eines Hirschkäfers. Wer genau hinschaut, wird die Ähnlichkeit erkennen. Einladend ist das nicht. Oder soll das die Botschaft sein: Wer sich in meine Fänge begibt, wird nicht mehr frei sein ganzes Leben? Zwischen den Zangen klebten zwei kleinere Brüder, wie zum Bereitlegen und Portionieren der Beute. Und zwischen der oberen Kirche und der zu ebener Erde liegenden Rosenkranzbasilika schlummerte das Tor zur Krypta, dessen kühlfeuchte Mystik manch ahnungslosem Besucher den Atem verschlägt. Als hinter ihnen jemand die schweren Türen zuklappte und der Hall bis tief in den Schlund hineinzischte, da hätte sich van Baccum gewünscht, wie Jonas nur von einem Wal verspeist worden zu sein. Durch acht Bögen hindurch tastete er sich zitternd vorwärts zur Kapelle. Als er zwischen Menschenknäueln in den kleinen Raum hineinglitt, traf ihn der Glanz der Strahlenkranzmaria derart unvorbereitet, daß er sich wie ein ängstliches Kind an seine blinde Führerin krallte. „Ja, wir Katholiken haben einen Sinn für Pointen.“ Muriel de Winter lachte. Dann zeigte sie ihm die Danksagungen der Gläubigen, mit denen die Wände der Krypta, der Räume neben dem Kapelleneingang, der Gänge dahinter und zur Sakristei gepflastert waren, in weißem und rotem Marmor.
Als sie wieder vor das Tor traten und er sich die Augen rieb, war aus den Hirschkäferzangen nur ein mißglückter Versuch geworden, den Schwung des Petersplatzes zu kopieren, ein Vorhaben, bei dem die Baumeister vor lauter Frömmigkeit den Sinn für Proportionen verloren hatten. „Los, zur Grotte.“
Wie klein sie ist, dachte Max. Ein schlichter Altar, viele Kerzen, und rechts oben, in den Fels gestellt, eine Statue der Jungfrau Maria. Max erkannte sie, ohne je zuvor hiergewesen zu sein; seine Großmutter hatte ein Bild von ihr im Gebetbuch getragen. Schön war sie nicht, daran änderte auch der Marmor nichts; ein typisches Beispiel verkitschter Heiligenverehrung aus dem 19. Jahrhundert. „Que soy era Immaculada Concepciou“, diese Inschrift steht auf dem Sockel, „ich bin die unbefleckte Empfängnis“. Hier irgendwo war es geschehen, am 11. Februar 1858, einem eisigen, vernebelten Tag, als plötzlich ein Brausen erklang, wie stürmischer Wind, und bei der kleinen Höhle, wo Schweineherden ihre Tränke hatten und Unterschlupf suchten, sah sie SIE das erste Mal, die Jungfrau, in Weiß gekleidet, mit einem blauen Band um ihre Hüften, eine gelbe Rose auf jedem Fuß. Von da an hatte sie achtzehn Begegnungen mit IHR. Hier, nicht irgendwo, genau an diesem Punkt war es. Eine links vor der Grotte in den Boden eingelassene Steinplatte erinnert daran. Und ein Stückchen weiter hinten kann man die Quelle sehen, die Bernadette zwei Wochen später entdeckte. Eine schmutzige Brühe war es zuerst, doch plötzlich wurde sie rein und klar, Zeichen jenes Wassers, welches mit dem Blut aus der von der Lanze durchbohrten Seite Christi floß. Die Quelle ist längst unter Glas, und der Wasserlauf ist kanalisiert. – Alles ist hier kanalisiert, auch der Weg der Fürbitten der Kranken und Beladenen, man hat ein eigenes Kästchen dafür hinter den Altar gestellt. Muriel faßte Max am Arm. „Suche nicht in der Welt. Suche hier. Hier ist das Geheimnis.“ Und sie drückte Max ein Büchlein in die Hand, mit den Botschaften der Jungfrau. Es war in englischer Sprache geschrieben und bereits kräftig zerlesen. „Hier, Max, ich habe das Heft seit vielen Jahren. Ich brauche es nicht mehr, denn ich bewahre jedes Wort in meinem Herzen. Ich hatte es schon fortwerfen wollen, weil es so alt ist und so zerrissen. Aber jetzt weiß ich, daß es gut war, es aufzuheben. Behalt’ mich, hat es geflüstert, bis Du jemanden findest, der es nötiger hat als Du. Und dieser Augenblick ist jetzt.“ Sie legte ihre Hände auf seine Wangen, eine mütterliche Geste, sanft und intim. Max aber entzog sich der Berührung. „Sie machen mir Angst, Muriel. Ich bin müde, und ich bin krank. Ich müßte ins Bett, vielleicht auch wieder nach Hause. Ich kann nicht klar denken. Alles tut weh. Mein Kopf dröhnt. Ich fürchte, ich werde verrückt. Vielleicht ist das alles gar nicht wahr. Vielleicht bin ich gar nicht hier. Vielleicht sind auch Sie gar nicht hier. Ich bin unendlich verwirrt.“ „Das bist Du, weil Du ahnst, daß es irgendwo eine tiefere Wahrheit gibt, eine Wahrheit, die Du fleißig leugnest. Sie ist da, um Dich herum, in Dir selbst. Du weißt es, und sie wird Dich erlösen, wenn Du sie läßt. Aber Du mußt sie ehrlich wollen. Kehre um, mein Freund. Da draußen...“ – sie zeigte in Richtung der spanischen Berge – „...da draußen lauert Gefahr. Max, geh nicht! Kehr’ um! Lauf weg! Sofort! Kehr’ um! Max...“ Ihre Stimme zitterte, tat plötzlich einen Schrei – und verstummte. Die alte Dame trat einen Schritt zurück, streckte die Arme aus nach ihm, und dann sah es aus, als wäre sie eingefroren, der Körper zu Stein und ihr Gesicht zur Fratze. Sofort stürzte Gladys herbei, stützte ihre Schwester, strich ihr zärtlich über die Stirn und sah Max böse an: „Was haben Sie gemacht, Sie Teufel?“ – nur um erschrocken zu ergänzen: „Gott steh’ Dir bei.“ Sie bekreuzigte sich. „Er habe Mitleid mit Deiner Seele.“ Nun strömten Pilger heran, drängten Max ruppig zur Seite, breiteten Jacken und Decken aus, damit sich Muriel de Winter hinlegen könne. Noch immer streckte die ihre Arme aus, wie ein Standbild, selbst als sie auf dem Boden lag, und ihr Gesicht war reines Entsetzen. Sie hat eine Erscheinung, murmelten die Leute, und sie staunten van Baccum an, als sei er der Leibhaftige. Und einige sanken auf die Knie, zogen den Rosenkranz aus der Tasche, und flehten SIE an. „Gegrüßet seiest Du, Maria, Mutter Gottes, voll der Gnaden, der Herr sei mit Dir...“ Verstört schlug Max seine Hände vors Gesicht und rannte fort von der Grotte. „...und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes...“
Und rannte? Wollte rennen, konnte nicht, kam nicht weit. Zurück war der Traum, zurück der Schlamm, der Sumpf, in dem die Füße stecken, man kommt nicht weiter, wie sehr man auch möchte. Hör auf, an Deinem Bein zu ziehen, sonst bricht es oberhalb des Knöchels ab, in dieser Welt, die ein seltsames Perpetuum Mobile ist, wo Trödeln das Trödeln nährt und ein Umweg den nächsten, wie im Traum, Du willst fortlaufen, aber etwas hindert Dich, Du willst bleiben, aber es treibt Dich, immer weiter, unstet beständig, nicht Stehen, nicht Gehen, ein Stolpern voller Pausen, doch ohne wirklich anzuhalten.
Es ging wirklich nicht. Denn heute war Sonntag. Vor der Kirche, auf dem freien Platz, hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, sag bloß, Du hast sie vorhin nicht bemerkt? Zum Gebet hat sie sich versammelt, zur Messe, warst Du wirklich so lang’ hinten, bei der Grotte? Oder ist das, was Du siehst, gar nicht wahr? Sind es Bilder von heut’ früh, von gestern, der nächsten Woche, Vorschau, Rückschau, Film im Film? Aber der Donner ist doch auch wahr, der schwarze Himmel, das Rufen der Männer im Berg! Muriel, die Dich zur Umkehr mahnt, das Büchlein, die Krypta, die Arme des Käfers! Alles wahr! Vor der Kirche, zwischen den Rampen, da liegen sie, die Kranken und Gebrechlichen, liegen dort seit hundert Jahren, und Max mußte zwischen ihnen hindurch, den Kranken und Gebrechlichen, die da liegen auf Bahren und Pritschen, sieh doch, sie empfangen die heilige Kommunion, und sie liegen unter einer blauen Decke, auf einem blauen Kissen, ihr Hemd ist so weiß, und der Priester kniet neben ihnen und legt ihnen die Hostie auf ihre Zunge, die Hostie, die feucht ist vom Wasser der Quelle, daß sie sich zu einem weichen Brei verwandelt, man kann sie schlucken, ohne auf ihr herumbeißen zu müssen, auf ihr, auf IHM, denn es ist SEIN Fleisch, sein Leib, und er ist es durch IHN und mit IHM und in IHM.
In mehreren Reihen sind sie aufgestellt, die Kranken und Gebrechlichen, in Betten liegen sie oder sitzen in Rikschas, hübsche Wägelchen mit aufklappbarem Dach und in blaues Tuch geschlagen, zwei Räder hinten, eins vorne, Stütze für den wehen Fuß. Aufgestellt in Reih und Glied, wie bei einem Autokino, und drüben ist die Leinwand. Schau, die Frau, die da vor Dir liegt! Du kommst nicht an ihr vorbei, wenn Du sie nicht ansiehst. Spring nach links, und ihr Bett fährt auch dorthin, spring nach rechts, und sie versperrt Dir dort den Weg. Sieh sie an, die alte Frau! Sieh sie an, sonst kommst Du nicht vorbei. Ganz in Weiß ist sie, und auf dem Haupt trägt sie eine Kappe, wie ein Säugling sie trägt, das paßt sehr gut, denn sie geht zurück, woher sie kam. Ganz blaß ist ihr Gesicht, nur die Lippen nicht, die sind ganz blau verfärbt, und ihre Augen sind verborgen unter einer viel zu großen Brille. Und alles andere von ihr liegt friedlich unter der gehäkelten Decke. Als brächte man einen Säugling zur Taufe. Ein Säugling, dessen Ende nahe ist. Vor dem Bett kniet ein Mann, es ist ihr Sohn. Wie anders er ist, mit energischem Stoppelhaar, vollem Mund, einer festen, braunen Haut. Zärtlich kniet er vor ihr, und seinen Kopf hat er vorsichtig auf ihr Bett gelegt, neben ihren Schoß, er weiß, daß es zu Ende geht, weiß es genau wie sie. Aber sie hadern nicht, betteln nicht, verlangen nicht nach Trost. Es ist, wie es ist, die Reise beginnt, das Leben geht weiter, hier oder dort.
„Gib’ die Bahn frei, Frau!“
Ja, Max, lauf weiter, zieh an Deinem Bein, selbst wenn es abbricht. Zwäng’ dich an dem Popen vorbei, seinem Knebelbart, wie er aussieht!, ganz in Gold und Samt, tausend Jahre unterwegs. Schau nicht zu den Paukenschlägern, den Menschen im Kostüm, wie Kivelinge sehen sie aus. Vergiß die Matrosenkapelle, die Männer in schottischen Röcken, und vergiß die japanischen Kimonos. Schließ’ die Augen vor den Fiakern und den afrikanischen Frauen, wie sie tanzen in bunter Robe und Turban. Und neben den Frauen stehen drei Schwarze in viel zu großen Jacketts, und sie tragen viel zu goldene Sonnenbrillen, als wären sie Spione. Lauf weiter, Max, Dein Fuß bricht ab, aber was macht schon der abgebrochene Fuß, hast ja noch einen, und wenn auch der weg ist, kannst ja noch prima auf Knien rutschen wie die Leute vom Malteserorden, erinn’re Dich, Semana Santa. Oder greif Dir einen Rollstuhl, wie die Burschen drüben, sie tragen einen Baldachin. Ein Bischof läuft unter dem Baldachin, er trägt die Monstranz von dannen, in vollem Ornat, und die Rollstuhlfahrer werden geschoben, weil sie doch beide Hände an den Stangen halten. Hinter ihnen stolziert ein englischer Bobby mit Tuba, begleitet von flämischer Spitze. Dazwischen Inder, die aussehen wie Fakire, gleich lassen sie die Schlange aus dem Korb. Einer trägt einen Büschel Pfauenfedern vor sich her. In den Federn steckt ein Holz, da tutet er hinein. Seine Kameraden umtanzen ihn, und weil ihre Trachten so schön sind, beachtet keiner das Grüppchen polnischer Jugendlicher nebenan. Ernst blicken sie drein, und sie haben Photos vom Papst auf ihr Kreuz genagelt.
„Ich muß zurück zu ihr.“
Als er sich zur Grotte zurückgekämpft hatte, waren Muriel und Gladys de Winter verschwunden. Max hatte so viele Fragen. Was sollten die Andeutungen? Welche Gefahr hatte sie gemeint? Warum die Aufforderung, umzukehren? Und was hatte es auf sich mit der komischen Broschüre da? „Ich muß sie finden“, legte er seine Marschrichtung fest, aber auch „Ich muß was essen. Ich brauche Schlaf. Ich habe Fieber.“ Aber alles auf einmal geht nicht. „Essen kann ich morgen. Schlafen auch. Und gegen das Fieber werde ich Tabletten nehmen.“ Doch wo sollte er mit der Suche beginnen?
„What I have to say to you does not have to be written down.”(1) Wie ein gehetztes Tier stolperte Max über die Pilgeranlage, zwischendurch im Heftchen blätternd. „The Apparitions of the Virgin Mary to Bernadette Soubirous.”. Wenn es doch endlich zu regnen begänne! Das Wasser würde ihn kühlen, vielleicht das Fieber austreiben, das Herzrasen beenden, vor allem diese Schwüle nehmen, diese entsetzliche Schwüle! Wieder mußte Max sich abstützen. Sein Atem rasselte. Endlich, es blitzte! Krachend entlud sich die Energie des Himmels. Warum nur schauten ihn all die Leute so an?
„Would you be kind enough to come here for fifteen Days?” Sie ist erst vierzehn Jahre alt, die kleine Bernadette, als ihr am Ufer des Gave zum ersten Mal die Jungfrau erscheint, in einem rauschenden Wind, ohne daß sich die Äste bewegen. Achtzehn Erscheinungen in fünf Monaten. Ein Vierteljahr später ergeht von Napoleon III. die Order, die Grotte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Da strömen schon Zehntausende an diesen Ort. Acht Jahre danach geht Bernadette ins Kloster, mit fünfunddreißig ist sie tot, aber unsterblich. „Panorama St. Bernadette – Spectacle durée 25 Minutes. Diorama Son et Lumière.“ Es gibt falsches Leben auch im richtigen.
„I do not promise to make you happy in this World but in the other.” Verzweifelt durchquerte Max die Gassen der Altstadt, rannte noch einmal zurück zur Grotte, Blitze schlugen ein in die Berge, aber es regnete noch immer nicht.
„Penance! Penance! Penance! Pray to God for Sinners.” Tausende von Kerzen waren in den Heiligen Stätten entflammt, ein Meer des Lichts, und auf den Lippen trugen die Gläubigen ihre Lieder. Ein mystisches Bild, erhaben und feierlich. Himmlische Heerscharen auf dem Weg zu Gott, trunken ihre Seele. Max stolperte herum, stieß wildfremde Menschen an, wie ein vom Wahn Geschüttelter. „Haben Sie Muriel de Winter gesehen? Sie ist blind. Sie ist ein Geheimnis.“ Die Menschen senkten den Kopf und sangen weiter. Manche taten es, weil ihnen die blinde Frau unbekannt war, manche, weil sie Max für irre hielten oder einfach fies waren vor seinem Anblick. Wirr sah er aus, tiefliegende Augen, offen sein Mund, hastig die Stimme. Schweiß perlte von der Stirn, seine Kleidung war ungeordnet.
Andächtig schaukelte der Schein der Lampen. Armut, wahres Gebet. Christe Eleison, Kyrie Eleison, Christe Eleison.
“Go, kiss the Ground for the Conversion of Sinners. Go and drink from the Spring and wash yourself in it. You will eat the Grass that is there.” Dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird, mein Blut, das für euch vergossen wird, für euch, liebe Sünder, die ihr entstellt seid von eurem Tun. Max war am Ende seiner Kräfte. Er hatte nicht geschlafen, nicht gegessen, der Alkohol wirkte bitter nach. Er ließ sich von der Prozession mittreiben wie ein Stück Holz auf einem mächtigen Strom. Wenn er die Schwestern de Winter hier nicht fände, dann nirgends. Aber wie sollte ihm das gelingen, in dieser Menschenmasse? (Und wo genau ist hier?) Schlimmer noch, hatte er sie denn wirklich gesehen, vorhin, oder war alles nur Einbildung?
Da, endlich, die ersten Regentropfen. Max richtete sich auf, erhob wie ein Priester seine Hände, riß die Lippen auseinander, streckte seine Zunge heraus, um das Naß nicht zu verpassen. Jetzt! Aus Tropfen wurde Geplätscher, Gepladder, Geglucker. Dann regnete es wie aus Kübeln. Die Pilger blieben stehen. Keiner rannte fort. Alle starrten in den dunklen Himmel. Es schüttete jetzt, ein Wolkenbruch. „Herr, sei bei denen, die in den Bergen sind.“ Bald war der Boden aufgeweicht, man stellt sich nicht vor, wohin es ihn schwemmt. Max stieß einen Schrei der Erleichterung aus, der Erleichterung und der Verzweiflung und der Erschöpfung. Wie in Zeitlupe sank er auf die Knie, auf der Grasfläche hinter dem Marienrondell, schlug mit dem Kopf erst nach hinten, dann nach vorn. Er klatschte mit dem Gesicht in eine Pfütze. Regentropfen tanzten auf seiner Wange. Er hielt die Augen geschlossen. – Endlich. Regen.
“Tell the Priests to let the People come in Procession and let a Chapel be built.” Erschrocken waren die Pilger beiseite gesprungen. Zuerst waren sie der Meinung gewesen, da sei ein Verrückter auf dem Weg zur Grotte, um Gesundheit zu erflehen, wie so viele hier. Also hatten sie nichts gesagt, als Max grunzend und mit den Armen fuchtelnd um sie herumlief und nach einer blinden Heiligen fragte. Nur eine keifende Alte hatte mit böhmischem Akzent nach Nieswurz gerufen. Jetzt aber, als er so da lag, sich nicht bewegte, nur entsetzlich röchelte, wie der Regen auf seine Wange tropfte und sie sahen, wie er Schlamm hatte in seinem Maul und die Grasnarbe, da ängstigte es sie und sie schrieen nach einem Arzt.
– – –
„Klarer Fall von Erschöpfung. Vermutlich waren auch Drogen im Spiel. Aber das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Es sei denn, wir machen einen Bluttest und so weiter. Aber wozu? – Glauben Sie mir, ich bin Arzt. Hab’ schon hunderte Pilger versorgt. Viel schlimmere Fälle dabei. Herzinfarkte, Schlaganfälle, Leberschaden. Tiefes Koma, tot die Oma, läuft der Laden. Was weiß ich. Bei der Menge Kranker, die hier ankommt! Da ist das hier doch Firlefanz. Der Kerl braucht Schlaf, einfach nur Schlaf. Sonst nichts. Am besten vierundzwanzig Stunden. Und dann ein saftiges Stück Rindfleisch. Damit er wieder zu Kräften kommt. Aber, mein lieber Herr Korte, was auch immer er getan hat in den letzten Tagen, es wird ihn ein Jahr seines Lebens kosten, soviel ist sicher. Sagen Sie ihm das. Sie sind doch sein Freund. Verdammt noch mal! So ein Raubbau. So was Verrücktes. Das überlebt man nicht ewig. Nobody can drive on this road forever.”
Es dauerte lange, bis Max erwachte. Es war wie ein fürchterlicher Kater. Alles drehte sich. Oben war unten und unten war oben. „Verdammt, Max, ich weiß nicht, was Du getan hast letzte Nacht. Und ich will es auch gar nicht wissen. Aber es wird – Teufel noch mal! – Zeit, daß wir von hier verschwinden. Komm, zieh Dich an und dann nichts wie weg hier. Du mußt bei Kräften sein, übermorgen beginnen die Stierläufe in Pamplona.“ Max zog den Mund schief. „Da draußen lauert Gefahr”, flüsterte er und hielt Felix’ Hand. „Tödliche Gefahr. Wir sollten nicht dorthin gehen. Wir sollten umkehren. Weglaufen. Jetzt sofort. Laß uns umkehren. Felix!“ „Papperlapapp. Du hast zu viele Kirchenlieder gesungen.“ – –
Peng! Der Wagen hatte eine Fehlzündung. Felix steckte sich eine Zigarette an und schluckte die letzten Zentimeter aus einer Wodka-Flasche. „Ab nach Pamplona! – Übrigens, ich hab’ ein zerrissenes Heiligenbüchlein bei Dir gefunden. Es war voller Schlamm. Ich hab’ es weggeworfen. Ich nehme an, das war Dir recht.“
I AM THE IMMACULATE CONCEPTION.
___
(1) Erste Botschaft der Jungfrau Maria (vom 18. Februar). Ihre Worte wurden dann aber doch niedergeschrieben.