Ganz kurze und
nicht ganz so kurze Geschichten.
Skizzen und Miniaturen
Vinzenz Thuine
Berlin. 2012
Zweitanz
In der Mitte des Zimmers stehen zwei Damenschuhe. Ungeheuer lebendig stehen sie da, ein wenig vorgestellt der eine, nachzögernd der andere. Erster Stadtlärm drängt herbei, Vogelgezwitscher, Glockenschläge, das Kreischen der Straßenbahn. Von übernächtigten Sinnen aufgemantelt, hauen die Geräusche auf ihn ein. Und auf dem See ziehen die Schwäne fürstliche Kreise. – Manche Nächte schenken uns einen dieser seltenen, unwiederbringlichen Momente, in denen es zur Zündung kommt mit Gott. Und daß dieser Gott ein Mensch ist, ein zarter, molkigweißer Mädchenkörper, das beweist ihm, daß es zur Erlösung keines Erlösers bedarf, sondern nur des eigenen Zutuns, des Zufalls vielleicht oder einer besonderen Gedankenfolge.
Morgue
So steht er da, getroffen vom Geschoß des Revolvers, welches seine Brust durchschlug und nun hinter ihm im Backstein steckt, und er schwankt nicht und schreit nicht, denn nicht Schmerz steht in seinem Antlitz, sondern schiere Überraschung – Überraschung über die Tat, aber mehr noch über das wissende Gefühl, tot zu sein, jawohl, tot zu sein, nicht nämlich nur zu ahnen, daß es mit ihm zu Ende geht, sondern vollkommen und ohne Zweifel zu erkennen, mit allem Verstand und allen Sinnen, daß er bereits gestorben ist, daß er der Welt, wie er sie sieht, mit all ihrem Zwielicht und Schmutz, schon nicht mehr angehört. Und er, der Tote, hebt jetzt seine Lider und sieht seinen Mörder an, seine Augen sind klar und ungebrochen, und er lächelt seinen Mörder an, ohne Haß, ohne Vergebung und irgendwie schlitzohrig, und er genießt es, wie dieser vor Schreck zurückweicht, und für einen Moment scheint es gar so, als wolle der Tote einen Schritt tun, aber dann bleibt er doch starr an die Wand gelehnt, und endlich schließt er die Augen und rutscht mit einem lauten Schürfen die Mauer hinab. Ein paar Tropfen springen aus einer Pfütze, dann ist es still.
Al-Maliki
Der arabische Arzt Al-Maliki war ein berühmter Handchirurg. Seine Berühmtheit war eng mit seinem zweiten Beruf verknüpft, dem des Henkers bei Leibstrafen. Beides zusammen machte ihn zu einem gefeierten Fernsehstar. Und zwar so: Im Lande des Al-Maliki war es üblich, Diebstahl mit dem Verlust der rechten Hand zu ahnden. Al-Malikis Spezialität bestand nun darin, einem Dieb zunächst vor laufender Kamera mit einem Beil die Hand abzuhacken – Blick auf die Hand | Schnitt | das blitzende Metall | Schnitt | vor Horror weit aufgerissene Augen | Schnitt | überall Blut – und das abgetrennte Körperteil anschließend kunstvoll wieder anzunähen. Al-Maliki testete dazu als Erstes mit einem elektrischen Impulsgeber die Nervenstränge der abgetrennten Gliedmaßen: Knopfdruck, elektrischer Strom, die Finger streckten sich wie von Geisterhand. Jubel im Publikum, Schnitt und aus. Dann fügte er alles zusammen. In der nächsten Folge wurde das Ergebnis der Operation gezeigt. Al-Maliki gelangen spektakuläre Erfolge; nicht selten war die abgehackte und wieder angenähte Hand wieder voll funktionsfähig, lediglich eine schmale Narbe zeugte von der Unerbittlichkeit der Justiz. Al-Malikis Ende ging einher mit den Wirren der Revolution, und es war ähnlich grausam wie sein Tun. Einer der von ihm Gemarterten schlug dem Chirurgen mit dessen Henkerbeil den Kopf ein, das Beil wurde geführt von der einstmals abgetrennten Hand.
Die Legende vom Süßen Meer.
Im Paradies war jedes Wasser süß. Dann pflückte Eva den Apfel, und sie und Adam wurden vertrieben. Ob dieses Unglücks weinte und weint die Mensch- und Tierheit bittere Tränen. (Die Tierheit wird in diesem Zusammenhang gern vergessen.) Tränen aber sind salzig. Und weil der Tränen viele sind und das Elend groß, haben sie über die letzten paarzehntausend Jahre ganze Ozeane vollgegreint. Und das einst süßeste Meer ist heute salzig. Wenn aber eines fernen Tages der Mensch seine Sünden bereut und nur noch Liebe ist, dann gibt es auch keine Tränen mehr, und der Salzgehalt schwindet, und alles ist wieder gut. Darum haben im Mittelalter fromme Männer jeden Morgen ihre Zunge ins Meer getaucht, um zu schmecken, wie es um die Welt bestellt sei. Leider ist dieser Brauch weitgehend verschwunden, und dort, wo es das Meereslecken noch gibt, ist es bloß ein Touristennepp.
Stufen
Marion wohnt in einem alten Haus abseits der Stadt. In ihrem Haus knackt es in letzter Zeit verdächtig, was heißt, daß es sehr viel häufiger und sehr viel lauter knackt als sonst in alten Häusern. Eines Tages fehlt der Tritt zur Straße hin. Bald muß sie gar Stufen erklimmen, um überhaupt aus dem Haus zu kommen. Am Ende klettert sie durch den Schornstein, um sich in Sicherheit zu bringen. Marion blickt sich noch einmal um, dann ist von ihrem Haus nichts mehr zu sehen. Die Erde hat es verschluckt. – – Die Natur läßt nichts gelten. Wird heute Dein Dach fertig, zeigt es morgen schon Risse. Schon tragen die Wege Moos, und das Holz fault in den Fenstern. Im Garten wuchert regellos, wo eben noch Formen herrschten. Rhythmus verschwindet, der Schönheit Plan wird ersetzt durch Ziellosigkeit. Alle Arbeit ist umsonst, alles Wollen ohne Chance. Was kommt, ist ein großes Wehen und von-den-Bäumen-Prasseln. Nie gibt es Ruhe, nie wirst Du fertig damit.
Taugedanken
Und so stand er frühmorgens, mit dem Rest eines Traums hinter den Augen, im Halbdunkel vor dem Spiegel, und ein Schein künstlichen Lichts formte eine Sichel unter seiner rechten Brust, dort, wo bei Christus sich die Lanze in den Körper bohrte, und mit dem gleichen Schwung.
Neues Wasser
Wildwechselfarben. Altweiberliches Spinngeweb. Grünblau geliertes Wasser schluppt ans Havelufer. Kastanienlaub auf Bänken, tiefe Wolken über dem See. Gartenmöbel werden heim geholt, unsere Gedanken werden es auch. Früher Nebel steigt auf, der Tagbogen wird kürzer, Zeit für Schweifendes. Seneca lesen, träge Bewegungen machen, Schritte tun, von Blättern gedämpft. Atemrauch. Nun wird es Herbst: Pflückzeit, Erntezeit. Sonne weicht aus den Blättern, weicht auch aus unseren Adern. Eine Krankheit wäre jetzt gut. Vierzehn Tage, vielleicht drei Wochen. Vor einem Jahr trug es ihn in die Berge. Was ist geblieben außer Erinnerung? Jetzt, hier, am schluppschlupp Havelufer?
Ein Abend mit Georg Kreisler.
Der mittlerweile 88-jährige erzählt Anekdoten, Geschichten, Satirisches, Witziges, Gemeines. Das Publikum lacht bereitwillig und weil es deswegen gekommen ist. Nur einer in der ersten Reihe lacht nicht. Er hält die Arme vor der Brust verschränkt, schaut Kreisler intensiv an und verzieht keine Miene. Nach der vierten Nummer ist es dem Alten zu viel. „Gefällt Ihnen wohl nicht, das Programm?“ Die Gästemehrheit schiebt schnell einen Lacher nach: Das ist doch sicher so geplant! Kreisler hakt nach. Der Eine antwortet endlich. „Nein. Es ist furchtbar. Furchtbar langweilig.“ Seine Stimme ist gut vernehmbar und kein bißchen nervös. Im Saal ist es auf einmal mucksmäuschenstill. „Ja, und warum gehen ’S dann nicht nach draußen, bitte?“ „Weil‘s da auch langweilig ist. Und hier hat’s wenigstens warm.“ „So so.“ Kreisler ist für einen Moment verdattert, vielleicht liegt’s am Greisenalter, daß er nicht mehr so schlagfertig ist wie früher. Da schallt es erneut aus Reihe eins: „Würden 'S bitte weitermachen, Herr Kreisler, ja? Ich hab‘ `nämlich dafür bezahlt, daß ich hier sitz‘ und mich ärgern darf. Also bitte!“
More London
Sechs Uhr. Zwischen den Häusergräben zeigt sich der zartrosa Schein der aufgehenden Sonne, zartrosa wie eine frische Pampelmuse, wie das Gesicht eines verliebten Mädchens, wie der Anfang eines Anfangs, und dieser Anfang ist eingewoben in eine laue, quellende, mit unerhörter Zärtlichkeit streichelnde Luft.
Der Trick des Simon Magnus
Simon Magnus war der berühmteste Zauberer der Erde. Alle Welt staunte über seine Tricks und Kniffe, bewunderte seine Art, wie er Mensch und Tier verschwinden und als andere Wesen an anderem Ort auferstehen ließ. Sprachlos sah sein Publikum, wie er selbst die schwersten Dinge durch die Arena schweben ließ, sie auf einem Finger balancierte und mit ihnen jonglierte. Niemand, auch seine vornehmsten Kollegen nicht, hatten eine Ahnung, wie er all diese atemberaubenden Dinge anstellte. Allerorten zerbrach man sich den Kopf darüber, fünf Jahrzehnte lang, so lange dauerte die Karriere des Simon Magnus. Selbst als dieser schließlich seinen Beruf an den Nagel hängte und sich auf seine Burg zurückzog, behielt er das Wissen um seine Zauberstücke für sich. Niemals sprach er auch nur mit einem Wort über seine Arbeit. Und schließlich nahm er all die Geheimnisse mit in sein Grab. Noch heute rätseln Kollegen und Publikum, rätselt alle Welt, wie er es bloß gemacht haben mochte. Der Trick des Simon Magnus war, daß es kein Trick war. Sein Geheimnis bestand darin, daß er tatsächlich zaubern konnte.
Geschichte von einem, der fliegen konnte.
Albrecht kann fliegen. Er konnte das nicht immer. Aber eines Tages, als er in seinem Zimmer steht und sich wie toll konzentriert, spürt er, wie seine Füße langsam vom Boden abheben. Ganz leicht nur, und mehr darf es auch nicht sein, denn er wohnt in einem Neubau, mit niedrigen Decken, da kann er nicht so einfach durch die Wohnung sausen. Mit jedem Tag schwebt er ein bißchen besser, aufrecht, als hätte er einen Stock im Rücken. Schließlich, als ihm die vier Wände zu klein werden, geht Albrecht nach draußen, in einen einsamen Wald, und er übt auf einer Lichtung. Er wird ein guter Flieger, sogar ein brillanter. Fast wie ein Vogel, wenn auch ein wenig schwerfälliger, und manchmal gegen alle Physik. – Eines Tages entdeckt ihn die Öffentlichkeit. Es ist eine Sensation. Er führt seine Fähigkeiten in großen Hallen vor und unter freiem Himmel, über Nacht wird er ein Held. Mediziner und Physiker sind ratlos, spirituell angehauchte Menschen sehen in ihm abwechselnd den Heiland oder den Teufel. Bald ist er nicht mehr nur der wunderbare Artist; man sucht auch seinen Rat zu Fragen des Lebens und der Welt. Er spricht vor der UNO (schwebend über den Köpfen der Generalversammlung), trifft den Papst, hält gleichsam eigene Messen. Doch das Hoch geht irgendwann vorüber. Man merkt es an den Auflagen seiner Schriften, an den Quoten seiner TV-Shows. Nicht, daß man ihn fallenließe, es hat auch nichts mit Intrigen zu tun oder mit Zynismus. Es ist nur einfach so, daß die Menschheit sich an den fliegenden Albrecht gewöhnt hat, und außer, daß Albrecht fliegen kann, ist er ein ganz gewöhnlicher Mensch, er kann nicht weniger, aber auch nicht mehr als alle anderen. Eigentlich könnte sich Albrecht wieder seinem Beruf zuwenden, so wie früher, doch das geht nicht; niemand würde eine fliegende Berühmtheit im Büro erwarten. Oder er könnte den Rest seines Lebens im Süden genießen, Geld verdient hat er ja genug. Doch er hat keine Lust dazu, sektsaufend seine Zeit auf Yachten zu verplempern. Und eines Tages als alter Mann zu enden, der nicht einmal mehr fliegen kann? Ach. Vernünftig gesehen, müßte er so bald wie möglich beim Versuch, eine nie gesehene fliegerische Leistung zu vollbringen, zu Tode stürzen. Daß ließe ihn unsterblich werden. Albrecht gibt eine Abschiedsvorstellung, sie wird ein gigantischer Erfolg. Zum großen Finale hält er eine pathetische und zu Tränen gehende Rede. Aber dann streckt Albrecht, anstatt seine atemberaubende (und selbstmörderische) Akrobatik vorzuführen, die Arme hoch und fliegt einfach davon. Denn die Legende von König Barbarossa hält länger als die von James Dean.
Sabishii
Sie gab ihm den Befehl, unbeschreiblich glücklich zu werden. Dann reichte sie ihm die Hand, lächelte kurz, und ging; ein ebenso hübsches wie gesundes und gedankenloses Tier. Und er, er fühlte sich in diesem Augenblick so deutsch, so provinziell deutsch, geradezu eichelfresserisch germanisch.
Der Fettwanst
Schaut ihn euch an! Schaut ihn euch nicht an! So fett wie er ist! Ein Schwein ist nichts dagegen, und ein Pottwal ein behender Hecht. Schaut ihn euch an! Seinen Bauch! Nur mehr loses Gewebe, wie labbriger Filz drängt es von den Rippen hinab, über den Rand der Badehose hinaus, und eines Tages, wenn die Schwerkraft ihre Arbeit getan haben wird, wird der Speckrand zwischen den Oberschenkeln, den Knien, den Waden schaukeln, womöglich sich bis auf seine Füße niederlegen. Auch seine Brüste sind vom Wuchern und Wabbeln bestimmt, als drücke der Leib von innen stetig neue Massen in die Hautlappen, so wie man Sahne durch einen Spritzbeutel drückt; eine schlammige, langsam fließende Sahne ist das. Die Brustlappen entsprießen gleichwohl einem Korb, dem man ansieht, daß er nicht immer in diese monströse Häßlichkeit gewickelt war. Ungeheuer breit ist er, und wo die beiden Pectoralis im Fettbad kaum erkennbar sind, sind deren Gegenüber auf der Schulter- und Rückenseite, die Trapezius und Latissimus, noch immer äußerst beeindruckend, nicht definiert, aber von monumentaler Größe. Der Fettwanst läßt einen ehemaligen Gewichtheber erahnen, der dem Ende seiner Karriere völlig außer Form geraten ist, zu einem ästhetischen Ungeheuer mutiert, aber noch immer von gewaltiger Kraft; wie eine Geisterstadt, bei der man mit etwas Phantasie Bilder aus besseren Tagen vor den Augapfel zu holen vermag, oder wie ein verschütteter antiker Ort, bei der unter dem Staub feine Mosaike verborgen sind, und auch die berühmten Säulen sind noch da, wenn auch in Stücke gehauen und von Barbaren geplündert. Mit der Schwerfälligkeit eines aus seinen Elementen gerissenen Tieres steigt nun Goerrissen, so der Name dieses Wesens, in das Becken. Als die Wasserfläche seinen Hals erreicht, sind wir unmittelbar erleichtert, da einem solcherart Anblicke stets ein wenig peinlich sind, sind sie doch ebenso abstoßend wie anziehend, man kann ob der Außergewöhnlichkeit dieser Massen nicht wegschauen, und tut man es doch, dann ist auch das augenfällig. Goerrissen also schwebte jetzt im Wasser; seine Haut, die bei allem Unglück auch noch übermäßig behaart war, wurde sanft vom Wasser umschlossen, wie es das eben tut, das Wasser, und zwar ganz ohne Ansicht des in ihm Schwimmenden, denn Wasser ekelt sich nicht, und außerdem ist es hier, im Schloßhotel an der Themse, stark gechlort. – – Seit seinem Schritt in das Becken war eine Verwandlung mit Goerrissen vorgegangen, eine, die so niemals erwartbar gewesen war. Wo es vorhin von seinem halbnackten Körper nach allen Seiten hin lappte, straffte es sich nun; es war, als nehme der Mann Haltung an. Den Kopf nach vorn gedrückt, Schultern und Rücken gespannt sowie die Hände an den ausgestreckten Armen zur Faust geballt, stand Goerrissen in der Mitte des Pools und schnaufte wie einer, der gleich die Luft anhalten möchte und sich fragt, für wie lange er das wohl aushält. Und dann ließ er sich nach vorne fallen und begann zu schwimmen. Mit den ersten Zügen war Goerrissens Verwandlung vollendet. Mit kräftigem Armzug kraulte er zum Beckenrand, zog sich heran, wendete, stieß sich wieder ab und pflügte in die andere Richtung. Ja, pflügte, ein anderes Wort trifft es nicht, denn genau so, wie ein Traktor beim Pflügen tiefe Furchen in den Acker zieht, gleichmäßige Wellen des Erdbodens, wühlte Goerrissen das Wasser auf – oder als ginge Sturm und Gewitter über den Bodensee. Natürlich bewegt sich ein Mensch von der Masse Goerrissens nicht so wie es das Lehrbuch für den ambitionierten Schwimmer vorschreibt. Besonders merkwürdig erschien einem dabei das Mißverhältnis beim Antrieb zu sein: Während die kräftigen Arme Schlag um Schlag taten, in gleichmäßigem Rhythmus sich um den tief im Wasser liegenden, beim Atmen leicht zur Seite geneigten Kopf schraubten, die Hände sauber von oben kommend die Wasserlinie durchschnitten – hoher Ellbogen, freie Schulter –, in der nachfolgenden Tauchphase einen guten Stütz fanden und sich dann kräftig nach vorne drückten, während also alles von der Haarspitze bis zur Hüfte den geübten Freistilisten verriet, taten die Beine das genaue Gegenteil. Statt den Armzug durch Scherenschläge zu unterstützen, hingen sie schlaff und wie einzeln aufgehängt an Goerrissens Becken, so, als gehörten sie überhaupt nicht ihm, als wären sie unbelebtes Fleisch. Nur durch die Rotation des Oberkörpers um seine Längsachse und das Kabbeln des Wassers wurden sie bewegt, wie Leichen im Fluß, mal mehr das linke, mal mehr das rechte Bein, und nie waren sie aneinandergeschmiegt, was angesichts der Fettleibigkeit seines Eigentümers auch ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre. Infolge dieser Asymmetrie konnte von echten Gleitphasen innerhalb der Kraulfolgen keine Rede sein. Es war, als zöge sich einer nur mit der brutalen Kraft seiner Arme ein Seil hinauf. Wer aber nun erwartet hätte, daß Goerrissen bald der fehlenden Beintechnik Tribut zollen müßte, irrte. Wie eine keuchende, sprüttelnde, aber dauerlaufende Dampfmaschine stampfte er durch das Becken, in einer für Ungeübte enormen Geschwindigkeit, und er wurde nicht langsamer nach der zehnten Bahn und nicht nach der zwanzigsten, und als ich später mit heißen Lungen aus der Dampfsauna stieg, da stampfte die Walmaschine immer noch stoisch durchs Wasser. Selten habe ich einen Mann für eine sportliche Leistung mehr bewundert als diesen Hartmut Goerrissen.
E19, oder: Wahr und wahrhaftig.
Das technische Museum einer mittelgroßen Stadt in der hessischen Provinz hat einen neuen Direktor, Gregor Muntz, einen akribischen, auf die Rekonstruktion feinster Details versessenen Enthusiasten. Sein erster Erfolg ist die Wiederherstellung einer höchst seltenen E19-Lokomotive, welche der Stadt, die früher ein bedeutender Eisenbahnknotenpunkt gewesen war, in den achtziger Jahren auf Betreiben des damaligen Verkehrsministers, Sohn der Stadt und mittlerweile verstorben, als Grundstock für eine noch aufzubauende Sammlung vermacht wurde. Diese Sammlung blieb gleichwohl über Jahrzehnte ein Torso, bruchstückhaft und lieblos präsentiert. Das alles soll nun anders werden, und die E19 ist wie gemacht für einen fulminanten Neuanfang, existieren doch von den ursprünglich vier gebauten Maschinen nur noch drei Exemplare, wobei je eine die großen Ausstellungen in Nürnberg und Berlin ziert. (Die Existenz einer dritten erhaltenen E19, eben diejenige in der mittelgroßen Stadt im Hessischen, widerlegt übrigens die seit Jahren behauptete Version, zwei Exemplare seien 1984 verschrottet worden.) Die E19, bei ihrer Indienststellung 1938 die schnellste elektrische Lokomotive des Deutschen Reiches, wird also penibel restauriert. Während der Restauration bleibt das Museum offen; Zuschauer können die Arbeiten hören, aber nicht sehen, sie sind hinter einem großen Vorhang verborgen. Dies erhöht die Spannung; in Eisenbahnkreisen spricht man bereits von einer Sensation. Als jedoch am Tag der feierlichen Enthüllung durch den eigens angereisten hessischen Ministerpräsidenten der Vorhang von der feuerrot glänzenden E19 fällt, sind die anwesenden Honoratioren peinlich berührt. Direktor Muntz nämlich hat mit viel Sorgfalt auch das Hitlerkreuz an der Front der Lokomotive aufbereiten lassen, außerdem ist die E19 von vorn bis hinten mit Hitlerkreuzfähnchen geschmückt, und die Lokführerpuppe trägt eine original Dreißiger-Jahre-Rotzfahne im Gesicht. Es ist ein täuschend echtes Abbild der seinerzeitigen Feier zur Indienststellung der Maschine, aber für die anwesenden Persönlichkeiten ist es ein Affront. Viele murren, einige gehen, der Ministerpräsident bewahrt nur mit Mühe die Contenance. Und am nächsten Tag bricht ein Sturm der Entrüstung aus, über Direktor Muntz, über sein Institut, über die ganze Stadt. Rechtliche Einwände binden sich mit moralischer Empörung zu einem harten Granulat. Die Opposition sieht die Möglichkeit, die Regierung mal so richtig vorzuführen. Direktor Muntz, überrascht und schwer getroffen, beruft sich hilflos auf das Gebot zur historischen Wahrheit. Vergeblich, denn gegen Moral kommt Wahrheit nicht an. Auch sein Hinweis, Wehrdienstverweigerer zu sein, verfängt nicht. Der Skandal zieht Kreise. Die Lok wird weggesperrt, dem Museum droht die Schließung. Da entschließt sich Direktor Muntz, verzweifelt und letztlich aus Liebe zur E19, welche er in einen jahrelangen Dornröschenschlaf zurückfallen sieht, selbst die Moralkeule aus dem Schrank zu holen. Er bezichtigt all jene, die ihm historische Insensibilität und Schlimmeres, Gesinnungsvorsätzliches nämlich, vorgeworfen haben, den Nationalsozialismus zu verharmlosen. Jawohl! Wer nämlich eine Lok, einen technischen Gegenstand, ein Gebäude, was auch immer in den furchtbaren Jahren entstand, ohne Hitlerkreuz und Fähnchen zeige, der leugne dessen historischen Kontext, der leugne und verharmlose letztlich das Dritte Reich als solches, und also auch den Holocaust, der vergehe sich insofern am Grundgesetz, an der deutschen Nation und sei in letzter Konsequenz verantwortlich für all die entsetzlichen Taten von Neonazis, über die man in letzter Zeit so viel in der Zeitung lesen müsse. – Welch‘ eine Volte! Welch‘ ein Erfolg! Direktor Muntz wird rehabilitiert, sein Museum wird mit Preisen überschüttet, er selbst erhält einen Orden. Und kurz danach lugen aus den ersten Münchener Fenstern blutrote Fahnen mit dem Hitlerkreuz darauf, ein schwarzes Sonnenkreuz auf weißem Grund.
Petrus in Not.
Wetter gibt es schon seit Millionen von Jahren. Es ist mal gut und mal schlecht, je nachdem, wie man es nimmt. Verantwortlich dafür ist Petrus. Das heißt, er ist seit knapp zweitausend Jahren dafür verantwortlich. Seit wann genau, ist unklar, denn die einen meinen, er sei 64 n.Chr. in den Himmel, das heißt in die Wetterzentrale, aufgestiegen, während die anderen behaupten, es sei drei Jahre später passiert. Und ob Gott ihm den Job sofort gab oder erst nach einer Probezeit, ist auch nicht geklärt. In jedem Fall kennt ihn jedes Kind. Schon mancher hat ihn gehaßt, Landwirte meist und Menschen, die ins Büro müssen oder unglücklich verreist sind. Manche aber lieben ihn auch, Kinder vor allem. Niemals jedoch wurde seine Autorität angezweifelt. Keiner hat es gewagt, ihm zu widersprechen oder gar an seinem Stuhl zu sägen. Dann aber kamen die Makroökonomie, die liberale Schule und der Shareholder-Value. Und mit ihnen der Sieg des Egoismus, des Fortschritts und bei manchen auch der Unverschämtheit. Und schließlich, nach dem Fall der Rabattgesetze, begann das Feilschen. Und das hörte nicht bei Haushaltsgeräten und Herrensocken auf. Einige sprachen plötzlich sogar bei Petrus vor. Wie sie es schafften, weiß man nicht. Petrus mag kaum darüber reden, es ist ihm peinlich, und das bißchen, was die Öffentlichkeit wissen könnte, wird vom Vatikan unter Verschluß gehalten. In jedem Fall machte Petrus, der ja auch nur ein Mensch ist, von nun an die eine oder andere Ausnahme; gegen ein Jahr lang täglich Vaterunser, eine gescheite Pilgerreise oder eine Apanage für die Kirchengemeinde gewährte er kleine Gefälligkeiten, und das ist: gutes Wetter – oder jedenfalls das, was die Leute dafür hielten. Da das gute Wetter vor allem aus Sonne bestand, mußte Petrus die Regenwolken in andere Bahnen lenken. Ganz verschwinden lassen konnte er sie nicht, denn das wäre in der himmlischen Buchhaltung böse aufgefallen, und der Liebe Gott war diesbezüglich sehr gewissenhaft. Nur um das operative Geschäft kümmerte er sich verständlicherweise nicht, und so blieb es Petrus vorbehalten, die Verteilung von Sonne, Wolken, Wind und Niederschlag auf die einzelnen Zonen und Zeiten vorzunehmen. – Am Anfang klappte die Sache mit der Wettermanipulation ganz ordentlich. Die Menschen zahlten gut, und das Herumschieben der Wolken war ein Klacks für Petrus. Mit der Zeit aber wurde die Sache schwieriger. Da es sich nämlich herumgesprochen hatte, daß mit Petrus zu reden war, wollte nach und nach jeder seinen persönlichen Traumurlaub haben. Die Leute sind ja so eifersüchtig aufeinander! Was früher der dicke Benz war, wurde plötzlich das weather on demand. Das aber waren ganz schön viele Wetter! In einer solchen Situation einfach den Preis anzuheben und dadurch die Spreu vom Weizen zu trennen, will sagen: die Nachfrage in Grenzen zu halten, fiel Petrus nicht ein. Denn er hatte natürlich keine Ökonomie studiert, sondern Fischereiwirtschaft und Meteorologie – und strenggenommen war er in letzterem auch nur Autodidakt. Außerdem wäre es ihm gegen den Strich gegangen, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ein Monopolist im Himmel, der sich auch wie ein Monopolist verhielt, das ging nun wirklich zu weit. Er war eben ein gutmütiger Heiliger. Die Folgen seines Treibens waren jedoch bald nicht mehr zu übersehen: Hitzerekorde und Dürre in der einen Erdenecke, Überflutungen und Frost in der anderen. Und schließlich wurde aus einem kleinen Unglück eine ausgewachsene Katastrophe. Da wurde auch der Liebe Gott unruhig und grummelte in seinen Bart, Petrus möge die Sache rasch in Ordnung bringen, sonst sei Petrus die längste Zeit seiner Ewigkeit Petrus gewesen. Petrus schauderte bei der Vorstellung, von seinem Posten gestoßen zu werden, vielleicht gar verbannt in die himmlischen Latrinen. Was aber tun? Er mußte einen Spezialisten konsultieren. Am besten ohne daß Gott es merkte. Und das tat er dann auch. (Fortsetzung folgt.)
Das Leben, wie ich es gelebt hätte, wenn ich es gelebt hätte, das Leben.
Mehr als vor allem anderen ekelte sich Olaf Riekenbakker vor sich selbst, vor seiner Nase, den blutunterlaufenen Augen, dem Pestgeruch seines Rachens, vor der schlaffen, bleichen, lustlosen Haut. Wie alt mochte er jetzt sein? Fünfzig? Älter? Jünger gar? Ach, könnte er doch tun wie einer, der zu viel getrunken hat und den Schnaps unter Qualen wieder erbricht, aber der froh ist um die Erleichterung, die auf den Schwall und den Ekel folgt. Könnte er doch sein wie die Dame in der Werbung, ein Wisch, und alles ist weg, seine Gewohnheiten, seine Vergangenheit, sein ganzes sinnloses Leben. Alles weg, aufgesogen in einem Tuch, hinfort gespült, den Abfluß hinab, durch die Kanalisation, die Bäche, Flüsse hinab, weit ins Meer getrieben, den Fischen zum Fraß. Geklärt, gefiltert der Schlamm, gereinigt, getrocknet, als Sondermüll verbrannt. – Olaf Riekenbakker hatte Wein getrunken, und er war gegen zwei Uhr morgens in sein Bett gefallen, müde und dennoch erregt. Vergeblich hatte er Schlaf gesucht, den süßen, erfrischenden Schlaf. Er konnte sie nicht mehr ertragen, die Art, wie er lebte, die Art wie er war, die widerlichen Zigarren nicht und nicht den Anblick seiner gerichteten Zähne. Nichts Wertvolles war ihm geblieben, nichts Behaltenswertes wußte er in seinem Haus, nichts Lebendiges gab es, was er in seinen Händen trug. In Olaf Riekenbakker war etwas gestorben, das lange im Sterben gelegen, sich lange nach dem Sterben gesehnt hatte. Sein Schiff war versunken, und ob er es als Schiffbrüchiger auf eine rettende Insel schaffte, blieb mehr als ungewiß.
Der Stillstand.
Ein Mann und seine Frau wandern durch die Caldera des Teide. Sieben Stunden wandern sie, und sie sehen keinen Menschen. Als sie endlich, erschöpft und glücklich, am Parador ankommen, stellen sie überrascht fest, daß es leer ist. Heute morgen, als sie ihr Zimmer verließen, war alles noch voller Leben, aber jetzt ist niemand mehr da. Kein Gast, kein Bediensteter. Ansonsten ist alles noch wie früher, nichts gestohlen, nichts zerstört. Nur der Strom geht nicht mehr, auch kein Telephon, kein Radio. Als hätte es das nie gegeben. Verwirrt setzen sich die beiden ins Auto und fahren nach Icod. Auch hier: Kein Mensch, niemand. – Die beiden suchen weiter, einige Tage lang suchen sie, ohne Ergebnis. Da sie ohne Hilfe nicht von der Insel fortkommen, sich nicht einmal bemerkbar machen können, andererseits aber Lebensmittel überall reichlich vorhanden sind, richten sie sich, so gut es eben geht, in dieser seltsamen Situation ein. Sie ernten und sie jagen Tiere. Sie passen auf, daß ihnen nichts passiert, auch, daß die Frau nicht schwanger wird, denn es gibt keinen Arzt. Nach vier Monaten, plötzlich, verschwinden auch die Tiere. Noch einmal acht Wochen später, und mit einem Mal ist auch die Frau weg. Das Paar hatte sich zwar nach dem Verschwinden der Tiere geschworen, sich niemals aus den Augen zu lassen, aber irgendwie ist es doch passiert. Der Mann ist verzweifelt, er glaubt, verrückt zu werden, denkt daran, sich umzubringen, aber dann siegt seine fatalistische Neugier auf das, was als nächstes passiert. Dumpf brütend, auf das Ende hoffend, verbringt er seine Tage, dazwischen aufflackernde Hoffnung. Dreißig Tage nach dem Verschwinden seiner Frau wächst das Gras nicht mehr. Zwei Wochen weiter, und es ist Schluß mit dem Wechsel des Wetters. Acht Tage weiter, und die Winde stehen still. Nochmals hundert Stunden, und die Sonne geht nicht mehr unter. So endet die Geschichte. Sie erklärt nichts, und sie erlöst nicht unseren Hiob.
Das Streben nach Glück.
Ein kalter Fisch schwimmt durch meine Adern. Er gibt mir ein gräßliches Gefühl der Verlassenheit. Und ich hoffe, ich werde ein Dummchen sein, ein glückliches, kleines Dummchen. Ein Dummchen, das in Öl gemacht hat und, im Tangotakt Tote gebärend, sich nicht in die Welten traut. | Guten Abend, meine Damen und Herren, wenn Sie schon mal da sind! Der Dicke da, der liegt mitten im Essen. Hallo und Entschuldigung? | Da drüben, gleich am Ende des Rasens, als guter Gastgeber, voll von Gesichtern, die lange tot sind, ein vollendeter Herr, ein Zahnarzt, der Wölfe jagt, ein Spieler, der sieht, was läuft, der sich nicht kriegen läßt, der untergeht, aufsteht, ein Spieler bleibt, sich am Ende verkriecht. Und niemand soll davon wissen. | Denn sie alle hier, sie laufen stetig ineinander, mit oder ohne die Hunde, welche sie essen oder vor welche sie gehen, für immerdar und immerdar, wie ein trotteliger Automat. | Ich geh‘ nach Haus, es ist fünf Minuten vor Vier. Zu Leuten geh‘ ich, die berühmt sind, schön sind, so much fun. Rosa Wolken, die möchten, daß man sich hinaufsetzt auf sie, daß man sie hinter sich her zieht, als aufgeblähte Hemden, nach Maß genäht, mit Wind aus Rußland, und im Vestibül sitzt einer, den hat man vergessen und der spielt Klavier. | Der einzig normale Mensch, was er ist, er repariert Motoren und Bänke, mäht Rasen und Schafe, und am Mittag spielt er Klavier, töricht, sentimental, ein achtzehnjähriges Mädchen in seinem Herzen, und er klimpert und klimpert, unendlich entfernt von der, die er liebt, aber die doch hier in seiner Phantasie durch die Säle schreitet, mit ihrem süßen, geliebten Leutnant. | Und M.? Warum hat sie ihn, warum hat er sie geheiratet, warum drängten sie sich in ihr jeweils anderes Leben? | Eine Flasche Sauternes in seiner Hand und ein Brief, der schmolz dahin wie Schnee, der hat ihm Krämpfe gemacht, ihm, dem armen Mann, der eine reiche Frau begehrt, die er niemals, nicht mal in einem freien Land, bekommen wird. | Belugas Mätressen sind auch hier, in einem blauen Anzug, wie sie ihn trugen, als sie Max ermordeten, mit einer Zange, und mit einer bläulichen Nase. | Geh‘ ruhig, und Du, trag‘ sie ein, die wilden Namen, mit einem goldenen Bleistift, auf ein goldenes Stück Papier. Und wieder schmurgelt der Tango in meinem Rücken, Geigen und Trompeten, ich muß nicht fragen, mit wem Du gegangen bist. Und wieder dreht sich das Rad, die Vergangenheit zurückholend, ja! das kann man, natürlich kann man das, goldene Fische, goldene Förmchen, blöde, wie das ist, aber eine einzige Kerze erhellt das ganze Universum, wenn man nur will. | Liebend die Art, wie er sie liebt, liebend die Stadt, das Theater, das um sie gemacht wird, um die Männer und Frauen mit Brille und Hut, welche zwei Zigaretten zugleich rauchen.
Kindheit.
Und während ich schlafe, geht der Junge, die Pistole unter den Gürtel geschoben, auf Wanderschaft. Schießt einen Klempner von der Leiter, ergötzt sich vor dem alten Salon, lacht mit dem Zwerg, und erschrickt vor dem alten Portier, der die Jahrhunderte überdauert hat. Es erwacht etwas, man kennt es nicht, kennt es nicht mehr, und es knistert in einem, als sähe man einen alten Schrankkoffer vor sich, mit Aufklebern aus Madrid oder Montevideo. Oder als würde man gesteckt sein in das Kleid eines Mädchens. Der kleine Junge läuft über die Teppiche, springt über die Muster – nur keine Ritzen treffen, sonst geht man unter, ab in die Krokodile, oder wenigstens hat man haushoch verloren. Selbst an den tiefsten Stellen kann man auf den Grund sehen. Und die Uhr, die metallene Zuversicht, sie tickt wie eh und je. Aber die anderen, die die Uhr nicht ticken hören, was machen die? Sitzen in tiefster Nacht, starren auf die Bühne, zwei Körper, mit Widerhaken in sich selbst versenkt. – Auf dem Flur steht ein Mann. Rücken an der Wand. Auf der anderen Seite sitzt der Portier, der schmatzt an der Wurst. Der Portier lacht den Mann an. Wie wär’s? Aber der Mann schüttelt nur den Kopf und zieht seinen Revolver. „Hättest man’ Schokolade gehabt für mein kleines Schleckermaul.“ Und das Kind, es ist wieder da, es geht großen Schrittes nach vorn, nach rechts, nach rechts, und die Ritzen, ach die Ritzen, sie sind weg, weit weg, wie die Kindheit weit weg ist, und die Krokodile, sollen sie kommen, sollen sie beißen, sie kümmern mich nimmermehr.
Stille Nächte im Hotel.
Plötzlich schreckte er auf. Erst schüttelte er sich, dann rieb er seine Arme. Ihn fror. Er war im Sessel eingeschlafen, der Fernseher lief noch, und in ihm wurde scharf geschossen. Schade, daß es keine Testbilder mehr gibt, dachte er, vom Pfeifen des Testbildes wäre ich bestimmt wach geworden, und dann hätte ich mich ins Bett gelegt und bräuchte jetzt nicht zu frieren. Doch was in aller Welt hatte ihn aufgeweckt? Der Radau aus der Glotze? Die Kälte? Die schief gelegenen Knochen? Jetzt erinnert er sich: Da gab es noch ein anderes Geräusch als das des Krieges zwischen zwei verfeindeten Unterweltfamilien, und dieses Geräusch, nun, da sich die Killer über die Blutlachen ihrer Opfer beugen, hört er jetzt deutlich. Es kommt von der anderen Seite, aus der Richtung der Tür, hinter der ein dunkler Flur haust, ein dunkler und einsamer Flur im dritten Stock eines gar nicht so einsamen Hotels. Da, es klopft wieder, und dieses Klopfen klingt wollend, beinahe herrisch. Robert schiebt den Sessel zurück in den schmalen Gang zwischen Bett und Fenster und tapst zur Tür. Tapst zur Tür, lugt vergeblich durch den Spion, schiebt den Riegel beiseite, dreht am Knopf, zieht an der Klinke und streckt vorsichtig seinen Grauschopf ins Dämmerlicht.
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Die Frau in der Dämmerung, ein Mädchen war sie nicht mehr, trug ein enganliegendes, seidenes Sommerkleid und an ihren nackten Füßen eine Art Pantoffeln. Sie war mit den Fingern frisiert, hübsch und ungeschminkt, was ihrer kastanienfarbenen, hügeligen Erscheinung etwas Saftiges, Ländliches gab, etwas, was man am besten mit dem Wort lush beschreibt. Als Robert sie ansieht, aus verquollenen, aber ruhigen Augen, sie der Dunkelheit wegen tastend, aber ohne Umschweife fragend ansieht, da zuckt sie leicht zusammen, blickt erst zu Boden, dann ins Nichts.
„Entschuldigung bitte, ich habe mich in der Tür geirrt.“ Sie lächelt in einer Art, daß Robert sich wünscht, sie hätte es nicht getan, sich irren nämlich. Die Tür fällt zu, die Glotze poltert weiter.
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Die Frau in der Dämmerung, ein Mädchen war sie nicht mehr, trug ein enganliegendes, seidenes Sommerkleid und an ihren nackten Füßen eine Art Pantoffeln. Sie war mit den Fingern frisiert, hübsch und ungeschminkt, was ihrer kastanienfarbenen, hügeligen Erscheinung etwas Saftiges, Ländliches gab, etwas, was man am besten mit dem Wort lush beschreibt. Als Robert sie ansieht, aus verquollenen, aber ruhigen Augen, sie der Dunkelheit wegen tastend, aber ohne Umschweife fragend ansieht, da zieht sie die Augenbrauen zusammen und faucht ihn an:
„Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Ich kann bei dem Krach nicht schlafen. Stellen sie fix ihre Kiste leiser!“ Oder was? drängt es Robert auf die Lippen, aber er verkneift sich diesen Konter. Außerdem haben sich ihre Brauen bereits wieder gelöst, ihre Miene hellt sich auf, und es fehlt nicht viel, daß ihr ein Lächeln um die Grübchen geht.
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„Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Ich kann bei dem Krach nicht schlafen. Stellen sie fix ihre Kiste leiser!“ Oder was? drängt es Robert auf die Lippen, aber er verkneift sich diesen Konter. Außerdem hatten sich ihre Brauen bereits wieder gelöst, ihre Miene hellt sich auf, und es fehlt nicht viel, daß ihr ein Lächeln um die Grübchen geht.
„Natürlich. Entschuldigen Sie bitte.“ Robert macht ein verlegenes Gesicht. Ihn dröhnt der Kopf, seine Knochen quietschen, und ihn friert. Er fühlt sich unendlich müde, sowie schuldig vor sich selbst, schuldig, weil er den Tag verbaselt hat, weil er falsch gegessen und zu viel getrunken hat. Und weil er sich nicht hatte aufraffen können, anständig zu Bett zu gehen.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich stelle es sofort ab. Bestimmt. In Ordnung?“ Robert zog die Schultern hoch, hielt den Mund schief und blies Luft durch die Nase. Dann nickte er der Frau ein paarmal verbindlich zu, als wäre er ein Wackeldackel, hob unsicher die Hand und schloß geräuschlos die Tür. Die Frau, die kein Mädchen mehr war und deren Art man am besten mit lush beschreibt, hatte nicht auf seine Entschuldigung reagiert, nicht auf sein Nicken, nicht auf seinen Gruß. Sie hatte ihn bloß fragend angeschaut, als er schließlich die Tür zudrückte.
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„Natürlich. Entschuldigen Sie bitte.“ Robert macht ein verlegenes Gesicht. Ihn dröhnt der Kopf, seine Knochen quietschen und ihn friert. Er fühlt sich unendlich müde, sowie schuldig vor sich selbst, schuldig, weil er den Tag verbaselt hat, weil er falsch gegessen und zu viel getrunken hat. Und weil er sich nicht hatte aufraffen können, anständig zu Bett zu gehen.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich stelle es sofort ab. Bestimmt. In Ordnung?“ Der Ausdruck im Gesicht der Frau, die kein Mädchen mehr war und deren Art man am besten mit lush beschreibt, änderte sich ein weiteres Mal. So wie auf die zusammengezogenen Brauen ein angedeutetes Lächeln um die Grübchen folgte, so folgte auf dieses ein spöttisches Spitzmausmäulchen, und hätte unser Robert nicht noch immer mit seinen schief gelegenen Knochen gekämpft, wäre ihm aufgefallen, daß es nicht nur das Mäulchen einer Maus ist, sondern auch das einer Ratte.
„Darf ich Sie vielleicht auf ein Glas Wein einladen? Als Ausgleich, sozusagen, für den Lärm? Wissen Sie, ich schlafe nämlich auch schlecht.“ Ohne mit Ja oder Nein zu antworteten, nur mit diesem spöttischen Maus-und-Ratten-Blick, drängte sie sich an ihm vorbei in sein Hotelzimmer, wobei ihr Kleid genau an der Stelle, wo es den größten Umfang hatte, seinen Oberarm berührte.
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Robert versuchte, dem Nachhall des Gefühls Herr zu werden, welches er auf seinem Oberarm verspürte und das von dort in alle Richtungen strahlte. Es war die Schmiegung eines Kissens gewesen, ein weiches Vorbeischieben, nachgiebig, widerstandslos, ungeschützt und unumhüllt. Die Frau sagte ihren Namen. Robert mochte ihn. Er hatte eine gerade erst angetrunkene Flasche Sancerre neben den Sesseln stehen, und auch wenn das Eis im Kühler nicht mehr ganz so hell klang wie vor zwei Stunden, so war es doch noch nicht ganz zu Wasser zerflossen. Ein Glück eigentlich, dachte Robert, daß ich so gierig war, noch 'ne Buddel zu wollen, als ich vorhin nach Hause kam, und gut auch, daß der Kellner in der Übung seines Standes ein zweites Glas dazugestellt hatte. (Robert dachte tatsächlich „nach Hause kam“, obwohl es nur ein Hotel war, aber so war es eben, er war halt viel unterwegs.) Sie saßen sich gegenüber, Robert und die Frau mit dem schönen Namen. Sie saßen sich gegenüber und sie tranken Wein miteinander, die Frau hatte ihre Pantoffeln ausgezogen und ihre Füße seitlich zwischen die Sesselpolster geklemmt, und sie erzählten sich nette und belanglose Dinge, wie gute Nachbarn es hin und wieder tun.
„Wollen Sie vielleicht tanzen?“ fragte Robert plötzlich.
„Wir schieben die Sessel beiseite, dann geht es.“ Die Frau lachte ihn an, offen und herzlich, und es war nichts Mäuse- oder Ratten-ähnliches an ihr.
„Vielen lieben Dank“, sagte sie und zog die Pantoffeln wieder an,
„aber ich muß jetzt wirklich gehen.“
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„Wollen Sie vielleicht tanzen?“ fragte Robert plötzlich.
„Wir schieben die Sessel beiseite, dann geht es.“ Die Frau lachte ihn an, offen und herzlich, und es war nichts Mäuse- oder Ratten-ähnliches an ihr.
„Ja, warum eigentlich nicht? Aber nur, wenn ich barfuß tanzen darf.“ „Natürlich dürfen Sie!“ rief Robert und schüttelte die Arme von sich.
„Tanzen Sie barfuß! Barfuß bis zum Hals, wenn sie mögen.“ Und sie tanzten barfuß. Sie bogen ihre Körper zur Musik wie Pappeln im Wind, und aus dem Biegen wurde ein Winden, ein Winden und Schleichen, als wären sie Katzen. Sie wanden ihre Körper zur Musik, bis Schweißperlen von ihrer Haut sprangen. Und sie wischten sich den Schweiß ab und tanzten weiter. Bestellten sich Champagner und tanzten weiter. Wanden sich und wischten und tranken und vergaßen die Nacht und daß die Nacht stets in einen neuen Tag mündet.
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Als Robert wach wurde, stand die Sonne bereits im Zenit. Ihre Strahlen hatten das Zimmer aufgeheizt, es war stickig. Robert blinzelte kurz, tastete um sich, sog den fremdartigen Duft ein, der vor den zerdrückten Laken ausging und fühlte: nichts. Nichts in sich und nichts um sich. Sie war weg. Fort aus seinem Bett, fort aus seinem Leib. Sie war weg wie sie gekommen war. Wahrscheinlich war es gut so. Er wußte nichts von ihr, außer ihren Namen, aber was ist schon ein Name, und wer weiß, woher sie ihn überhaupt hatte. Robert stieg aus dem Bett, kratzte sich den Bauch, schaltete die Klimaanlage ein und stellte sich unter die Dusche. Eine halbe Stunde stand er dort, denn in der Dusche, da kannst Du vergessen oder Dich erinnern, wie Du gerade willst. Es gibt keinen besseren Ort, um mit sich allein zu sein.
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Als Robert wach wurde, stand die Sonne bereits im Zenit. Ihre Strahlen hatten das Zimmer aufgeheizt, es war stickig. Robert blinzelte kurz, tastete um sich, sog den fremdartigen Duft ein, der vor den zerdrückten Laken ausging und fühlte: eine warme Leere. Den Abdruck von etwas, was eben noch dagewesen war. Von etwas? Von ihr! Es plätscherte im Bad, first from her, than on her. Dann putzte sie sich die Zähne. Dann kam sie zurück.
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Als sie aus der Dusche kam, war sie barfuß wie gestern, nur daß statt des Schweißes kleine Brausetropfen zwischen ihren Schultern standen. Robert stand auf, prüfte den Inhalt der Champagnerflasche, goß ein, trat hinter die Frau, welche in den letzten Stunden wieder zum Mädchen geworden war, groß und feucht und lush noch immer, und er pustete zwischen ihre Schulterblätter, auf die Brausetropfen, bis ihre Härchen zu Berge standen. Das Mädchen machte eine geschmeidige Bewegung und drehte sich ihm in die Arme. Es mochte, sollte, mußte der Beginn von etwas Großartigem sein.
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Als sie aus der Dusche kam, war sie barfuß wie gestern, nur daß statt des Schweißes kleine Brausetropfen zwischen ihren Schultern standen. Robert stand auf, prüfte den Inhalt der Champagnerflasche, goß ein, trat hinter die Frau, welche in den letzten Stunden wieder zum Mädchen geworden war, groß und feucht und lush noch immer, und er pustete zwischen ihre Schulterblätter, auf die Brausetropfen, bis ihre Härchen zu Berge standen. Das Mädchen machte eine geschmeidige Bewegung, drehte sich von ihm weg und zog sich an. Es hatte jetzt wieder dieses Mäuse-und-Ratten-Gesicht.
„Es war schön“, nickte sie lakonisch,
„aber für mehr wurde ich nicht bezahlt.“ In Robert zog sich alles auf einen Punkt zusammen, Herz und Leib und Seele, zog sich zusammen auf einen Punkt, als ließe man den Film des Lebens rückwärts laufen, und der Urknall wäre sein Ende, so zog sich alles bei Robert zusammen. Aber eine Blöße geben würde er sich nicht, nicht nach allem, was er die letzten Jahre hatte durchmachen müssen. Und wenn noch so viel Hoffnung verlorenginge in diesem Moment, und wenn noch so viele Fragen offen blieben, was ihr Auftritt zu bedeuten habe zum Beispiel und wer sie in Dreiteufelsnamen zu ihm geschickt hatte, Robert beschloß, die Sache zu nehmen, wie sie eben war. Den lauwarmen Champagnerrest links, die Hand zum Gruß erhoben rechts, so stand er vor ihr, nackt, ein wenig in die Jahre gekommen, nicht ohne Narben, doch mit durchgedrücktem Rücken und einer angelernten stiff upper lip.
„Zimmer dreihundertneunzehn verabschiedet sich mit Dank und Anerkennung.“ Ihr Gesicht verzog sich zur Grimasse. Die Frau, das Mädchen, sie waren beide verschwunden, lush war verschwunden, selbst der Mäuse- und Rattenblick war nicht mehr. Übrig geblieben war grenzenlose Leere, ein Blick, der nicht einmal zu fragen wußte, ein bebender, doch seelenloser Körper, gekrönt von Brüsten, die nicht wußten, wofür sie auf der Welt sind, welche im Kleide zappelten wie Katzen in einem Sack, kurz bevor man sie im Fluß ertränkt.
„Zimmer dreihundertneunzehn? Das ist doch nicht möglich!“
Der Melud.
(Eins. Melud ist, aber er weiß es nicht) Als Melud geboren wird, ist er bereits ein Mann. Stark und groß wie ein Baum, ein prächtiger Körper mit einem ausgeprägten Instinkt. Er ist ein perfektes Raubtier, und er handelt nach einprogrammierten Regeln. Wenn ich Hunger habe, jage ich, wenn ich müde bin, schlafe ich, wenn ich Lust habe, suche ich mir eine Frau. Melud ist ein Tier, das nichts weiß. Der Körper dient sich selbst, er ernährt sich und gefällt sich und pflanzt sich fort. Etwas anderes kennt er nicht. Dafür ist auch keine Zeit, denn Melud ist in ständiger Gefahr, umgeben von Feinden, bedroht von Siechen und der Rache der Natur. Sein Überleben hängt am seidenen Faden, und wenn er nicht kämpft, stirbt er. Es ist nicht so, daß Melud von Natur aus dumm ist, daß sein Körper keinen Platz hat für Verstand. Er weiß es nur nicht. In seinem Kopf ist sogar eine Vorrichtung für Kultur, aber das weiß Melud erst recht nicht. Und weil er es nicht weiß, vermag er sie auch nicht zu gebrauchen. Und sein Hirn dient nur als elektrischer Pulsgeber, und es steuert einen Körper, der von ihm nichts ahnt, der aber die Fähigkeit zu Denken nötig hätte, um den täglichen Kämpfen zu entgehen und um einen Hauch von Ewigkeit zu erhaschen. Da hat Gott endlich ein Einsehen. Er hatte Melud vor Zeiten geschaffen und ihn vielfacher Gefahr ausgesetzt. Melud hat sich als würdig erwiesen. Er war mutig und hat es schlau angestellt. Allein: Seinen Gott kannte er bis dahin nicht. Gott aber will, daß Melud ihn erkennt, ein bißchen eitel ist er eben auch. Also belohnt er den Melud und führt ihn zum Wasser der Erkenntnis. Er taucht ihn tief unter, so lange, bis Melud glaubt, zu ersaufen. Und dann haucht Gott dem Melud Verstand ein.
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(Zwei. Melud weiß, daß er ist) Meluds Körper wird jetzt vom Verstand gesteuert, nicht länger vom Instinkt. Melud lernt, und er verändert Grenzen. Der Verstand zeigt ihm, wie man Waffen baut und Höhlen, er gibt ihm eine Sprache. Melud pariert die Attacken der Natur und macht sich die Tiere zum Knecht. Sein Überleben ist gesichert. Werkzeuge und Behausungen machen ihn zum festen Bewohner der Welt, zu einem, den man nicht mehr hinauswirft. Melud preist seinen Gott, er ist ihm dankbar auf unreife Weise. Aber so sehr der Verstand das Leben des Melud erleichtert, so wenig erkennt dieser den Verstand als Wert an sich. Er ist ihm Werkzeug, Mittel zum Zweck, fertig. Melud glaubt, Gott habe ihm den Verstand gegeben, damit er sein Leben erleichtert. Also sei der Verstand da, um dem Körper zu dienen und seinen Schöpfer zu ehren. Dafür, und für nichts anderes. So denkt Melud. Melud liebt seinen Körper, und er liebt seinen Gott. Aber Melud fühlt zum ersten Mal auch Unzufriedenheit mit seinem Schicksal. Er sucht nach jenem „mehr, viel mehr“, nach dem jeder sucht, der etwas erreicht hat. Wo aber soll er anfangen? Es ist zu viel Nebel in ihm, als daß er es auf eigene Faust finden würde. Er fragt seinen Gott, doch der lehnt sein Ansinnen ab. Es sei seine Bestimmung, zu überleben und dafür ihn, den Gott, den einzigen, zu ehren. Melud fleht ihn an, doch Gott befiehlt ihm zu schweigen. Aber Melud gibt sich nicht zufrieden. Verzweifelt irrt er durch seine Welt. Er ist doch so stark, warum kann er dann nicht finden, wonach er sucht, warum kann er nicht wenigstens wissen, was er eigentlich sucht? Er beginnt, seinen Gott zu hassen, der ihm ein Brosamen Erkenntnis gab, aber nicht die Macht, diese weiter zu entwickeln, ihre Fesseln zu durchschneiden. An einem Tag passiert, womit Melud nicht mehr gerechnet hat. Er kommt an ein Wasser, das Wasser der Erkenntnis, glitzernd liegt es da, wie ein grüner Smaragd, und da erinnert er sich. Das war der Ort, an dem Gott ihm den Verstand einhauchte, ihn vertraut machte mit sich selbst. Und noch einmal wendet sich Melud an Gott, beschwört ihn, hofft auf Gnade. Aber Gott antwortet nicht. Da entscheidet sich Melud gegen seinen Gott. Und taucht ein in das, was er begehrt.
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(Drei. Melud weiß, was und wie er ist) Melud ist ein anderer geworden. Er hat sein Schicksal in seine eigenen Hände genommen. Er hat sich ein Haus gebaut, eine Stadt, einen Tempel. Und noch eine Stadt. Und noch einen Tempel. Er betet zu Gott, aber er tut es nicht in einer Geste der Demut. Melud ordnet die Welt nach seinem Ebenbild. Er übt sich, Schmuck zu schmieden und Waffen. Er erfindet Werkzeuge zu seiner Bequemlichkeit und mechanisiert die Tötung seiner Feinde. In immer kürzeren Abschnitten vermehrt sich sein Wissen, und er sichert es durch die Erschaffung der Schrift. Melud erfindet Automaten, die Geschichte und die Philosophie. Er umrundet die Welt. Es ist ein mühseliges Geschäft, aber Melud findet Gefallen daran, denn er scheffelt Reichtum auf Reichtum. Weil er den Hunger verlernt, beginnt Melud, Kunst und Schönheit außerhalb der Natur zu suchen. Melud begreift die Techniken der Liebe, er hat Möglichkeiten zur Muße, und er erkennt den Wert des Nichtstuns. Seinem Körper gönnt er Schlaf und Erholung. Und sein Geist geht währenddessen auf Wanderschaft. Es ist die Phase großen schöpferischen Tuns. Melud fühlt Stolz. Stolz auf sein Werk, darauf, daß er der König der Welt ist. Seine Feinde sind tot oder liegen mit den Gesichtern im Staub. Aber Melud verlangt es nach Höherem. Was er sucht, ist Unsterblichkeit.
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(Vier. Melud tut, was er will.) Meluds Kräfte sind vollends entfesselt. Sein Dasein ist Wandel. Er glaubt sich angehaucht von göttlicher Macht. Das Rad dreht sich jetzt immer schneller. Melud baut und reißt ein und erfindet und zerstört. Er liebt und er haßt, er ist barmherzig und über alle Maßen grausam. Nie hat die Welt mehr Schönheit und Reinheit, Schmutz und Verderben gesehen. Meluds Reich ist autark. Es lebt in der Natur, aber eigentlich existiert es neben ihr. Melud überwindet den Raum; alles ist Geschwindigkeit, ist Handeln, ist Kraft um ihrer selbst willen. Logik ersetzt den Glauben, denn er hat nachgewiesen, daß das Rennen nach Seligkeit nichts ist als die bunte, nutzlose Fahrt auf einem Narrenschiff. Melud durchquert die Welt, weil es ihm gefällt. Er erobert die Geheimnisse der Erde, weil es ihm gefällt. Er schreibt ein Buch, weil es ihm gefällt. Er trinkt und lebt dann wieder asketisch, weil es ihm gefällt. Weil es ihm gefällt! Und weil es ihm gefällt, verlacht er seinen Gott und streckt ihm die Zunge raus. Wer ist schon Gott gegen Melud? Der Geist ist nicht mehr des Körpers Diener, er ist sein eigener Herr. Und der Körper? Ist er jetzt der Sklave des Geistes? Ein überflüssiges Anhängsel? Noch nicht. Denn Melud ist nicht der Fromme, der den Leib vergammeln läßt. Noch gilt das Greifbare als das Wirkliche, und also genießt der Körper eine Freiheit wie noch nie, kann wie der Geist ganz für sich sein. Er leidet keinen Hunger und braucht niemanden zu fürchten. Der Körper wird vom Werkzeug zum Spielzeug. Spielzeuge werden geliebt und gepflegt – und manchmal auch mißbraucht und mißachtet. Melud genießt, und er genießt stark. Der Rausch wird seine zweite Heimat. Reize werden unterdrückt oder stimuliert, Grobsinnliches zu Feinsinnigem verarbeitet. Melud besiegt den Schmerz und die Krankheit. Zwar kann er nicht bestehen ohne diese Hülle aus Haut, Knochen und was sonst noch. Doch künstliche Ernährung, künstliche Fortpflanzung, künstliche Herzen und virtuelle Welten stellen ihn zunehmend in Frage. Es ist die glücklichste Zeit in Meluds Leben.
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(Fünf. Melud denkt, aber er ist nicht mehr.) Eines Tages beginnt es Meluds Geist zu stören, daß er noch immer in den Fesseln seines Körpers steckt. Also beschließt er, ihn, den groben Stoff, das unnütze Beiwerk, einfach hinauszuwerfen. Melud sinnt nach Flucht aus dem Kerker und spielt mit den Gesetzen des Lebens. Bald hat er gelernt, seinen Arm gegen eine Mechanik zu tauschen und sein Auge durch eine Linse zu ersetzen. Seine Innereien weichen einem chemischen Apparat und sein Herz einem Kreiskolbenmotor. Bald ist nichts mehr da, was Melud braucht und so reißt er seine Gliedmaßen aus und sein Geschlecht. Er zieht sich selbst die Haut ab und nimmt sich seinen Skalp. Als schließlich nur der Schädel übrig ist, befiehlt er einer Axt, ihn zu zerschlagen. – Jetzt ist Melud am Ziel. Er ist ganz Wille, ganz Gedanke, ohne Fesseln, ohne Band. Er streift umher, ohne Regeln, ohne Heimat. Unstet wie ein Schiff ohne Anker. Er ist allein mit sich und das macht ihm Angst. Um ihn herum ist tiefe Stille, und weil er keine Zunge mehr hat, bleibt das Rufen nach Gott ein sinnloser Versuch. Wer sich seiner selbst entäußert, wird nicht selig, sondern unaussprechlich. Verzweiflung greift nach Melud und der Wunsch nach Tod und Erlösung. Doch das, was nicht in eine Hülle eingewebt ist, stirbt nicht. So ist Meluds Unsterblichkeit die ewige Hölle, und es bleibt ihm nur die Hoffnung, sein Geist möge immer feiner werden, immer feiner, bis er sich schließlich in blankem Nichts auflöst.